AW: Was die dumme Liebe aus uns macht - Avi's OneShots and Similar Stuff
I'll Always Think Of You - In Memoriam Julia Brahms
Es war bereits Nacht, als Ingo Lenßen mit seinem Ermittler in die Kanzlei zurückkehrte. Schwerfällig stiegen die beiden die Treppen hoch, öffneten die Tür. „Sandra?“, fragte Christian, noch immer mit erstickter Stimme. „Sandra, du... du musst herkommen...“
Die Angesprochene tat, was ihr gesagt wurde, trat in den Flur und betrachtete ihre Kollegen mit einem Stirnrunzeln. „Was ist denn mit euch los?“, erkundigte sie sich, während sie die beiden zum Ermittlerbüro begleitete. „Und wo ist Julia?“
Schweigen. Eindringlich sah Sandra ihrem Vorgesetzten in die Augen. „Ingo... Wo ist Julia?“
„Sie... sie wurde angeschossen, Sandra...“, flüsterte er kaum hörbar. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck. „Also ist... ist sie im Krankenhaus?“
Kopfschütteln. Vorsichtig legte Chris eine Hand auf ihre Schulter. „Sie hat es nicht geschafft...“
Wegen eines Trauerfalls vorrübergehend geschlossen.
Ihre Hände zitterten, als sie das Schild an der Tür anbrachte. Lange stand sie davor, betrachtete es mit tränenverschleierten Augen. Zärtlich, beinahe liebevoll strich sie über die schwarzen Druckbuchstaben, ehe sie sich umwandte. Und lief. Doch bereits nach wenigen Stunden fand sie sich erneut in der Kanzlei wieder, inmitten eines Kerzenmeeres. All ihre Kollegen hatten sich auf dem Boden versammelt, sahen nun zu Sandra auf, als hätten sie sie längst erwartet. Nur eine fehlte. Julia.
„Hey...“ Auch sie sank nach unten, schmiegte sich müde an Christian. „Was... was tut ihr hier?“
„Wir... wir wollten ihrer nur noch einmal gedenken... Und uns... verabschieden...“
„Entschuldigung?“ Mit einem schüchternen Lächeln auf den Lippen betrat eine junge Frau die Kanzlei, sah sich etwas im Raum um. „Ich... ich soll mich bei Ingo Lenßen melden...“
Der dunkelblonde Mann sah von seiner Akte auf. „Es tut mir Leid, Herr Lenßen hat einen dringenden Termin vor Gericht... Worum geht es denn?“
„Ich... ich hab mich für die Sekretärinnenstelle beworben...“, erwiderte sie. „Und eigentlich wäre heute mein erster Arbeitstag.“
Christian lachte. „Oh... Setzen Sie sich doch erstmal... Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann...“
„Vielen Dank, Herr...“ Sie runzelte die Stirn.
Seufzend erhob er sich. „Ich hab ja völlig vergessen, mich vorzustellen! Tut mir Leid... Mein Name ist Christian... Und Sie können gerne ‚Du’ zu mir sagen, wenn Sie wollen.“
Chris’ neue Kollegin lächelte. „Freut mich, dich kennen zu lernen, Christian. Ich bin Julia. Julia Brahms.“
Lange saßen sie so da, schweigend. Die beiden Frauen weinten stumm, auch in den Augen ihrer Kollegen glitzerten Tränen. „Wir... wir sollten ein paar Worte sagen...“, konnte man plötzlich Ingos schwache, erstickte Stimme vernehmen. Katja nickte kaum merklich. „Ja...“, flüsterte sie. „Ja, das sollten wir...“
Ihr Vorgesetzter räusperte sich leise, ehe er sich schließlich herob. „Julia...“ Erneut muste er sich räuspern, denn noch immer war er kaum fähig, zu sprechen. Er schloss für einen kurzen Moment die Augen... Und gab sich vollkommen den Erinnerungen hin, die ihn von einer Sekunde auf die andere heimgesucht hatten.
„Julia?“ Seufzend lehnte sich Ingo in seinem Sessel zurück, nippte an seinem Kaffee. Es dauerte keine Minute, ehe sich die Tür öffnete und die angesprochene Sekretärin trat in den Raum. „Wollen Sie noch einen Kaffee, Herr Lenßen?“, fragte sie. Ihr Vorgesetzter schüttelte kaum merklich den Kopf. „Setzen Sie sich doch bitte.“
Sie tat, was von ihr verlangt wurde. „Was gibt’s denn?“
„Wie lange sind Sie nun schon hier, Julia?“, fragte Ingo. Seine Sekretärin zuckte mit den Schultern. „Ungefähr drei Jahre... Wieso fragen Sie?“
Ein verschmitztes Lächeln umspielte seine Lippen. „Dann halte ich es für mehr als angebracht, dass wir uns ab jetzt duzen – vorrausgesetzt Sie haben nichts dagegen...“
Etwas überrumpelt von diesem Vorschlag schüttelte Julia den Kopf. „Nein... Nein, absolut nicht...“ Sie lachte, während sie ihm die Hand reichte. „Julia...“
Ihr Vorgesetzter nickte ihr freundlich zu. „Ingo.“
„Hey, kleines Julchen...“ Geistesabwesend nahm Christian ihr Bild in seine Hände, betrachtete es lange. „Meine... meine beinahe Lieblingskollegin... Ich weiß, ich habs dir nie gesagt, aber... du warst etwas ganz Besonderes... Hast dich zu einer großartigen Ermittlerin entwickelt...“ Seine Stimme war mittlerweile kaum mehr als ein Flüstern. Doch selbst wenn ihn seine Kollegen nicht verstanden... Es war ihm egal. Völlig egal. Denn er sprach für Julia. „Ich hab dich wirklich gern gehabt, mein Mädchen... Halt... halt mir da oben einen Platz frei, okay? Wart auf mich...“
„Julia, verdammt, beeil dich!“ Vorwurfsvoll warf Christian einen Blick auf die Uhr, doch noch immer war von seiner Kollegin keine Spur zu sehen. „Wir hätten Ingo schon vor einer Stunde vom Flughafen abholen sollen!“
„Ist ja gut, ist ja gut, ich weiß gar nicht, warum du immer so hetzen musst...“ Mit einem leichten Augenrollen blickte Julia von ihrem Spiegel auf. „Bin ich verschmiert?“
„Was?“
Julia seufzte leise. „Lippenstift?“
Geistesabwesend schüttelte er den Kopf. „Siehst toll aus, wie immer, Julchen...“, brummte er. „Aber jetzt komm endlich, Ingo bringt uns um!“
Für einen kurzen Moment herrschte Totenstille. Berührt von Christians Rede wagte niemand, etwas zu sagen, bis schließlich Sebastian als erster seine Sprache wiederfand. „Ich kann es immer noch nicht glauben... Dass... du wirklich nicht mehr da bist... Ich weiß... Wir hatten nie viel miteinander zu tun, aber... Du fehlst mir... Du fehlst mir so sehr... Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit miteinander verbracht... Aber... Dafür ist es wohl zu spät...“
„Ach, wen sehe ich da? Meine Lieblingskollegin...“ Sich leise räuspernd, mit einem gefährlichen Lächeln auf den Lippen setzte sich Sebastian neben sie. Etwas unsicher zuckte Julia zurück und betrachtete ihn argwöhnisch. „Den Blick kenn ich... Also, was willst du und wie viel kostet es mich?“
Basti lachte leise. „Du bist viel zu misstrauisch, Ju...“, erwiderte er.
„Und so wie ich dich kenne zu recht.“
Er musste lächeln. „Darf ich diese Reaktion als ‚Ja’ werten?“, fragte er. Julia konnte ein Seufzen nicht unterdrücken. „Sag mir doch erstmal worum es geht...“
„Es tut mir so Leid, Julia...“ Mit Tränen in den Augen strich Sandra über das Glas des Bilderrahmes, beinahe zärtlich. Sie schluchzte leise, vergrub ihr Gesicht in den Händen. „Es ist meine Schuld... Es... es ist alles meine Schuld...“
Chris schloss sie vorsichtig in seine Arme. „Hey...“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Sandra, schau mich mal an...“
Kopfschütteln. Vorsichtig nahm er ihren Kopf in seine Hände, brachte sie so dazu, ihm endlich in die Augen zu sehen. „Du hast nicht Schuld, Sandra...“, sagte er langsam und bedächtig. „Niemand von uns hat Schuld, okay? Wir... wir hätten es nicht verhindern können...“
„Sandra, Katja, könnt ihr mal kurz kommen?“ Sie konnte ein leises Schluchzen nicht unterdrücken, als ihre beiden Kolleginnen den Raum betraten. Erschrocken kamen die Frauen angelaufen. „Julia, um Himmels Willen, was ist denn passiert?!“ Vorsichtig schloss Sandra sie in ihre Arme, doch plötzlich... ganz plötzlich begann sie zu lächeln. „Ihr seid passiert...“, flüsterte sie und deutete auf das Fotoalbum, das auf ihrem Schreibtisch lag. „Das ist so unglaublich süß von euch...“
Auch Katja musste nun lächeln. „Hey... Das ist doch selbstverständlich...“, erwiderte sie und strich ihr vorsichtig eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Erneut musste Julia schniefen. „Ihr seid die besten Kollegen, die ich je gehabt hab...“, flüsterte sie. „Danke... Danke für alles...“
Vorsichtig, ganz vorsichtig, mit zitternden Händen nahm sie Julias Bild in ihre Hände, drückte es an sich. Tränen liefen ihre Wangen hinab, selbst als Katja ihre Augen schloss. „Ich werd dich so vermissen, Julia...“, flüsterte sie kaum hörbar. Langsam hob sie ihren Kopf, wandte ihren Blick nach oben. „Ich... ich weiß nicht, ob du mich hören kannst... Da oben... Aber... Ich möchte, dass du weißt, dass wir...“ Sie stockte. „Du hast eine... unglaubliche Leere in uns hinterlassen... In uns allen... Niemand von uns hätte je gedacht, dass du so plötzlich gehen würdest... Du fehlst uns so, Julia... So sehr... Ich... ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen... Das alles ungeschehen machen... Aber es geht nicht... Es geht einfach nicht, auch wenn es unglaublich wehtut... Es war wunderschön, mit... mit dir zu reden... Zu lachen... Du warst immer für uns da, wenn wir dich brauchten...“ Erschöpft lehnte sie sich gegen die Couch, brach nach kurzem Schweigen in leisen Schluchzer aus. „Immer...“, murmelte sie, kaum hörbar. „Bis auf ein Mal... Komm zurück, Julia... Bitte... Wir brauchen dich doch... Mehr als alles andere... Ich fleh dich an, komm zurück...“
Ein leiser Windhauch umspielte ihr Gesicht, wurde immer stärker, bis durch ihn alle Kerzen erloschen. Unsicher suchte Sandra nach Christians Hand. „Was... was war das?“, fragte sie kaum hörbar. Er konnte nur mit den Schultern zucken. Katja lächelte kaum merklich. „Julias Seele, Sandra...“, flüsterte sie. „Es... es war Julias Seele...“