Krabat - Das 4. - 6. Jahr
2 Bis Mitternacht
Vor der Scholtisei hielten sie an. Krabat, Anna, Juro und Lobosch stiegen vom Wagen und gingen hinein. Drinnen in der Gaststube saßen acht der Müllerburschen um einen großen Tisch, jeder mit einer Schüssel Suppe und einem Krug Bier vor sich. Sie waren guter Dinge und erzählten sich Geschichten. In einer Ecke saß Lyschko allein. Es gab ein großes Hallo als die vier hereinkamen.
„Wo wart ihr so lange? Konntet ihr euch nicht trennen von der verfluchten Mühle?“ wurden sie von allen Seiten gefragt.
„Ich habe versucht zu retten, was zu retten war auf die Schnelle“, sagte Juro. Die acht am Tisch rückten zusammen, sodass die vier Ankömmlinge sich noch auf die Bänke setzen konnten.
Juro fuhr fort zu berichten: „Draußen steht unser Leiterwagen mit den Braunen, beladen mit dem, was wir in der Eile noch zusammenraffen konnten. Das meiste ist Küchengerät.“
Hier fiel Lobosch ein: „Krabat, ich habe auch einen Sack mit deinen Sachen aus der Schlafkammer dabei. Das habe ich ganz vergessen, dir zu sagen.“
„Krabat schaute Lobosch an: „Danke mein Freund. Mein Kopf war nicht klar genug, um an meine Sachen zu denken. Anna hat mich einfach aus der Mühle geführt.“
Einige der Burschen grinsten sich eins. Juro aber sagte: „Lasst mich die Geschichte zu Ende bringen, es ist wichtig! Wir mussten dann Hals über Kopf aus der Mühle abrücken. Der Müller fing an zu toben und zu fluchen. Er ist noch nicht tot und ich warne euch alle, noch irgendeinen Zauberspruch zu versuchen. Ich weiß nicht genau wie, aber wir sind noch mit den Bösen Mächten verbunden.“
Andrusch wollte etwas erwidern doch Juro schnitt ihm das Wort ab: „Kein aber, Andrusch! Wenn wir nicht alles verderben wollen, wenn wir wirklich frei sein wollen, so müssen wir uns bis Mitternacht im Zaume halten: solange, bis der Müller tot ist und unsere Zauberkraft erloschen.“
„Juro hat Recht“, sagte Hanzo. Die anderen pflichteten ihm bei und Merten sagte: „Es steht zu viel auf dem Spiel, versteht ihr?“ Ja, sie verstanden es nun.
Die Tochter des Scholta, Annas Base, brachte noch vier Schüsseln mit Essen. Sie war um einige Jahre älter als Anna und hieß Katharina genannt Katja.
„Danke Katja“, sagte Anna. „Für mich nicht. Ich glaube, es ist besser, ich gehe erst einmal nach Hause.“ Zu Krabat, der neben ihr saß, sagte sie: „Ich möchte noch wieder zu euch kommen, zu dir Krabat und das neue Jahr mit euch feiern; aber ich kann’s nicht versprechen. Ich will erst mit meinem Vater reden. Wenn ich nicht komme, erwarten wir dich morgen früh auf unserem Hof.“ Krabat nickte. Er verstand, dass sie nun doch unruhig war. Anna stand auf und ohne dass die meisten am Tisch es richtig bemerkten, war sie schon an der Tür und hinaus.
„Was hat sie?“ fragte Lobosch, der Krabat gegenüber saß.
„Eltern, die sie lieb hat und die sie lieb haben, etwas, das wir uns als Waise Betteljungen schon fast nicht mehr vorstellen konnten“, sagte Krabat leise. Lobosch musste schlucken und Krabat sah, dass dem Kleinen fast die Tränen kamen.
„Ich möchte am Liebsten bei dir bleiben, Krabat und bei Juro, wenn’s geht“, sagte Lobosch und schluckte wieder.
„Das wird sich finden, Lobosch.“ Krabat legte Lobosch seine Hand auf den Arm und widerholte: „Das wird sich finden.“ Er musste selber schlucken und fügte dann hinzu: „Ich möchte auch mit euch beiden zusammen bleiben.“
Krabat blickte in die Runde und Juro sagte grade: „Und ich habe alle Stalltüren offen gelassen, sodass die Tiere hinaus können. Vielleicht können wir ja das eine oder andere noch wieder einfangen. Wir werden in den nächsten Tagen den Koselbruch durchkämmen. Die Mühle wird in dieser Nacht abbrennen, ob die Stallgebäude auch, kann ich nicht sagen. Da fällt mir ein: unser Wagen mit den Braunen steht immer noch draußen. Den müssen wir noch versorgen.“ Witko, der neben Juro saß, stand auf und sagte: „Ich gehe schon mal hinaus. Wenn du weißt, wo wir die Pferde unterbringen können, komm zu mir.“
„Das ist gut, Witko. Ich frage den Scholta“, sagte Juro und erhob sich ebenfalls.
Einen Augenblick später setzte sich der Scholta zu den Müllerburschen an den Tisch.
„Eure Pferde haben Platz in unserem Stall, der Wagen kann hinter dem Haus stehen. Ich habe mit Juro gesprochen. Und ihr dürft, wie ihr wohl schon wisst, auf unserem Heuboden übernachten; bis auf weiteres, solange ihr keinen anderen Schlafplatz habt.“
„Das ist sehr großzügig von Euch, Herr Scholta“, sagte Hanzo. „Wir wissen das zu schätzen, weil keiner von uns eine Bleibe hat.“
„Euer Juro ist ein schlauer Bursche“, sagte der Scholta. Andrusch lachte kurz auf, denn in der Mühle war Juro immer für einen Dummkopf gehalten worden. Ein Rippenstoß von Staschko neben ihm und die Blicke, die Merten und Petar Andrusch über den Tisch zuwarfen, ließen ihn augenblicklich verstummen. Der Scholta sprach weiter:
„Ohne Juro wäre uns im letzten Winter die Saat verfroren. Er hat den Schnee gezaubert, den der Müller uns verwehrt hatte. Juro ist mir damals im Traum erschienen. Als er dann gestern hier war und bat, euch aufzunehmen, erkannte ich ihn sofort.“
Krabat bestätigte was der Scholta gesagt hatte und fügte hinzu, dass es von nun an aber keine Zauberei mehr geben werde; keine nützliche, aber - und das viel wichtiger – auch keine böse mehr.
Der Scholta sprach weiter mit den Müllerburschen. Auch Juro und Witko kamen wieder herein. Krabats Gedanken aber schweiften ab und er dachte an Anna, ob sie wohl heute Abend noch wieder käme und wie er ihren Eltern gegenübertreten sollte.
Da fällt sein Blick auf Lyschko, der immer noch allein und zusammengesunken in seiner Ecke sitzt. Krabat geht zu ihm hin und setzt sich ihm gegenüber. Lyschko blickt kaum auf.
„Ich kann mir beinahe denken, was mit dir ist“, fängt Krabat an. „Aber ich verstehe nicht, warum du über den Tod des Müllers betrübt bist, wenn es das ist. Wir sind frei und können tun und lassen, kommen und gehen, was, wie und wohin auch immer. Niemand hält uns.“
„Du mich auch nicht“, sagt Lyschko und steht auf.
„Wo willst du hin?“ fragt Krabat. Er bekommt keine Antwort. Lyschko nimmt den Sack mit seinen Habseligkeiten und geht zur Tür. Ohne ein weiteres Wort an die Müllerburschen verschwindet er hinaus in die Nacht.
„Dem ist nicht zu helfen“, meinte Kito als Krabat sich neben ihn wieder an den großen Tisch setzte. „Was hat er gesagt?“ wollte Juro wissen. Krabat wiederholte seine und Lyschkos Worte. „Wenn es so ist, wie du denkst Krabat, dann können und sollten wir ihn auch nicht halten. Dann können wir eher froh sein, wenn wir ihn los sind“, sagte Juro.
„Das ist dann wohl so“, seufzte Krabat. „Er war immerhin unser Mitgeselle.“
„Der uns dauernd beim Müller verpfiffen hat, ja. Ich will nicht mit dir streiten heute Abend aber werd jetzt bloß nicht rührselig, Krabat!“ erboste sich Kito und winkte ab. „Eine Sorge weniger, ein Esser weniger. Soll er doch gehen und sich allein grämen, er ist schließlich ein freier Mensch.“ Nun meldete sich Witko vom anderen Ende des Tisches zu Wort: „Mir kann der Lyschko tausend mal gestohlen bleiben. Er hat mich, als ich Lehrjunge war, immer wie seinen Knecht behandelt und außerdem trägt er eine große Mitschuld an Michals Tod.“ Merten nickte stumm dazu, denn immer wenn die Sprache auf seinen toten Vetter Michal kam, der als letzter ein Opfer des Müllers geworden war, verschlug es ihm die Sprache. Damit schien der Fall Lyschko für die Burschen erledigt zu sein, denn sie kamen nicht wieder auf ihn zu sprechen.
In der Gaststube der Scholtisei gab es etwas, das es nicht in jedem Haus gab zu jener Zeit: Eine Uhr, eine große Standuhr, deren Pendel gleichmäßig hin und her schwang. Krabat kannte Uhren nur von Kirchtürmen und einmal hatte er eine in einem Pfarrhaus gesehen. Der kleine Zeiger war schon an der elf vorbei und der große fast ganz unten. Krabat wusste, dass es nicht mehr lange hin war bis Mitternacht, bis das neue Jahr anfing. Das erste Neujahr, das er mit seinen Mitgesellen feiern wollte. Ein Neujahr mit einem wahrlichen Neuanfang, ohne Angst und Schrecken in ein neues Leben. Und die Kantorka wünschte er sich auch dazu. Kantorka? Nein, Anna! Wenn er an sie dachte, schlug sein Herz schneller. Ob sie wohl noch kam? Krabat musste gähnen. Es war ein langer Tag geworden. Die anderen Mühlknappen gähnten auch schon ab und an verstohlen. Und der kleine Lobosch war, den Kopf auf den Armen, auf der Tischplatte eingeschlafen. Der große Zeiger der Uhr begann schon wieder auf der linken Seite aufzusteigen.
Da öffnete sich die Tür und Anna kam herein, dicht gefolgt von einem bäurisch gekleideten Mann von etwa vierzig Jahren, der niemand anderes sein konnte als ihr Vater. Krabat war schlagartig hellwach. Anna kam gradewegs auf Krabat zu:
„Da bin ich endlich Krabat - und nicht zu spät. Dies ist mein Vater, genannt der Buchner-Bauer hier im Dorf.“
Krabat trat dem Bauern entgegen, machte eine Verbeugung und sagte: „Guten Abend Herr Buchner. Ich freue mich, Euch kennen zu lernen.“
Der Bauer reichte Krabat die Hand und erwiderte den Gruß: „Ich freue mich auch, dich kennen zu lernen, Krabat, nachdem meine Tochter mir soviel von dir erzählt hat.“
Die anderen Mühlknappen waren verstummt. Alle Augen ruhten auf Krabat und dem Buchner-Bauer. Nur Lobosch schnarchte leise.
„Wir alle hier im Dorf kennen die Mühle am Schwarzen Wasser“, begann Annas Vater. „Wir ahnten, dass dort etwas Ungeheuerliches vor sich ging. Aber niemand wusste etwas Genaues. Mein Schwager, der Scholta, behauptet, der Schnee, der letzten Winter unsere Saat rettete, kam von euch Müllerburschen. Die anderen Bauern hatten ihn zu eurem Meister geschickt, weil sie sich keinen Rat mehr wussten. Ich traute der Sache nicht und war dagegen, genau wie unser Pfarrer. Die Geschichte, die Anna mir heute berichtete, klang sehr gefahrvoll und ich glaube nicht, dass sie mir schon alles erzählt hat. Gott sei Dank ist sie noch am Leben. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Und dann meinte sie, ich solle dich, Krabat, und deine Mitgesellen erst kennen lernen und dann urteilen. Nun denn. Sie ließ nicht locker und wollte unbedingt in dieser Nacht noch einmal hierher kommen. Ich liebe meine Tochter sehr und da habe ich mich erweichen lassen und bin mitgekommen.“
„Ich danke Euch dafür“, sagte Krabat. „Die Geschichte ist wahr. Unser Meister, der Müller im Koselbruch, war ein böser Zauberer, der uns wie Gefangene hielt. Ja, so etwas gibt es wirklich“, bekräftigte Krabat auf den ungläubigen Blick des Buchners hin. „Anna hat mir das Leben gerettet und uns allen zur Freiheit verholfen. Nun wollen wir ein neues Leben beginnen und mit ehrlicher Arbeit unser Brot verdienen. Ist es nicht so, Brüder?“
„Jawohl, ja so ist es!“ Kam es von allen Müllerburschen.
„Ich möchte Euch alles, was Ihr wissen wollt, gerne später erklären“, fuhr Krabat fort. „Aber nun sehe ich auf der Uhr, dass der Augenblick naht, auf den wir warten und ich bitte Euch im Namen meiner Mitgesellen, dessen gedenken zu dürfen.“
Die Müllerburschen erheben sich alle und ohne, dass sie es verabredet hätten, stellen sie sich im Kreis um den Tisch auf und fassen sich an den Händen. Krabat aber lässt Lobosch zu seiner Rechten wieder los und ruft:
„Anna! Du warst unser rettender Engel, komm zu uns!“
„Anna, nicht!“ ruft der Bauer.
Doch blitzschnell, bevor ihr Vater sie zurückhalten kann, tritt das Mädchen zwischen Krabat und Lobosch und reicht ihnen die Hände. In dem Moment fängt die große Uhr an zu schlagen. Zwölf mal.
„Zwölf Schläge, einen für jeden von uns“, sagt Juro feierlich. „Der Müller ist tot, der Bann gebrochen, wir sind erlöst.“