AW: Wortgewalt - Kurzgeschichten & Gedichte
Dankeschön
Hier mal etwas altes:
Winter
Der Einbruch des Winters hatte weit mehr erstarren lassen als die Natur. Auch wenn diese zu einer strahlenden Pracht geworden war, machte es den Eindruck, als hätte die triste Kälte auch ihren Einfluss auf die Zeit genommen, die nur ungewohnt langsam vergehen wollte. So zogen sich die Tage in die Länge – wenn man nicht eher sagen sollte, dass es die Nächte taten, denn die Sonne stand nur wenige Stunden am Himmel und selbst dann verdeckt durch schwere Wolken –, ja sogar die Menschen schienen Andere geworden zu sein.
Grau war es in der kleinen Stadt geworden, die sonst so belebten Straßen blieben leer, nur selten irrten schemenhafte Gestalten durch die Gassen, hinterließen ihre Spuren deutlich im Schnee, bis dieser verwehte oder es erneut zu schneien begann. Dass er jedoch auch tauen könnte, zog niemand in Betracht. Allgemein machte sich niemand Gedanken darüber, was mit den Spuren geschehen würde, die Menschen – wenn man sie denn noch als solche bezeichnen konnte – wussten weit Bedeutsameres zu tun, als vergängliche Abdrücke im Schnee zu beobachten.
Jegliches Wesen, das die Bewohner einst ausgezeichnet hatte, hatten sie, wie die Bäume es mit ihren Blättern taten, abgeworfen und achtlos auf den Dachboden gepackt, wo es neben kurzen Hosen und Röcken, T-Shirts und luftigen Blusen, die in dieser Kälte keiner zu tragen wagte, zu Schlaf gelegt wurde, auf dass es dort überwintern und irgendwann aufwachen sollte, wenn sich die Frühlingsboten näherten, um die Trostlosigkeit, die nun überall zu finden war, wieder in ihre Schranken zu weisen.
Diese „Nichtmenschen“ jedenfalls hatten sich in ihre warmen, mit unnatürlichen Gerüchen durchfluteten Stuben zurückgezogen und niemand traute sich einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Man könnte Dinge sehen, aufregende Dinge, oder verlorene Spuren im Schnee. Viel einfacher war es da sich träge und in flauschige Bademäntel gewickelt auf den weich gepolsterten Sofas niederzulassen und sich das Leben langweilig und unspektakulär zu denken, um diesen Mangel an Spannung durch unaufhaltsame Blicke auf die flackernden Bilder, die der kleine schwarze Kasten zum Besten gab, auszugleichen.
Niemand schaute hinaus aus dem Fenster, niemand, bis auf eine alte, weißhaarige Frau. Jeden Tag saß sie da, in dem Ohrensessel, der ein altes Familienerbstück war, jeden Tag mit dem selben starren Blick, der sich seinen Weg durch das leicht beschlagene Glas bahnte.
Außer ihr würde sie nie jemand erblicken, die Abdrücke im weißen Schnee, und so kam es, dass sich der Frost an den Gebäuden hochzog, eisige Knospen an den Scheiben aufzublühen begannen und die kleine Stadt in einen tiefen Schlaf verfiel.
Die Spuren nutzten diese Stille, gierten nach Gehör. Und da niemand zu widersprechen wagte, baten sie den Wind, dass er ihre Geschichte erzähle, auch wenn ihnen niemand Beachtung schenken würde, niemand, denn der Schlaf, in den die Bewohner versunken waren, war tief. Einzig die Augen der alten, weißhaarigen Frau richteten sich - offen wie zuvor - aus dem Fenster, ihr Bewusstsein jedoch, war schon lange zuvor eingeschlummert.
Das leise Wispern des Windes wühlte die Worte auf, die der niedergedrückte Schnee schon so lange ausgesprochen wünschte, trug sie in einem harmonischen Zusammenspiel aus den verschiedensten Klängen vor; Dem Rascheln der gefrorenen Blätter, die vereinzelt noch an den Ästen der dürren Bäumchen hingen, dem leisen Knistern des Eises, in dem im Gegensatz zu den Menschen in dieser Stadt noch reges Leben herrschte, dem erstickten Schrei der jungen Frau und dem Knirschen, das die Spuren selbst von sich gaben.
Da lag sie nun, mit ihrem blonden Haar, wartete ruhig, ließ sich selbst von dem Frost nicht stören, der um ihre zarten Lippen zu spielen begann, ihnen das sehnsuchtsvolle Rot raubte und nur ein blasses Blau zurückließ. Wartete geduldig auf den Mann, der herbeigeritten kommen würde, auf den Prinzen, der sich zum zärtlichen Kusse über sie beugen würde, auf ihr Erwachen - doch sie wartete vergebens.