Teil 4
"Wie geht es Ihnen heute?"
Lena wusste, dass sie die Frage nicht zu beantworten brauchte, denn man musste ihr ihre Schmerzen und ihr Leid ansehen. Sie senkte ihren Blick und sah zu den zitternden Händen hinab, die auf ihrem Schoß lagen. Wieder überkam sie dieses grauenvolle Gefühl, das sie in letzter Zeit ständig hatte. Es durchdrang ihren ganzen Körper, von den Zehenspitzen hinauf über die Beine, in Arme, Handgelenke und Fingerspitzen. Kalte Schauer überliefen sie, so, als würde sie leicht bekleidet im tiefsten Winter vor der Türe stehen.
"Frieren Sie?", fragte die Person, die gegenüber von Lena saß, stand auf und legte Lena eine Decke über die Schultern.
"Danke!", hauchte Lena und sah der jungen Frau in die Augen. Was würde sie nur ohne Cathrin machen? Sie war die einzige, der sie vertrauen konnte, der sie alles erzählen konnte, musste und wollte. Eigentlich war sie wie eine Freundin. Wie Christine... Christine war Lenas beste Freundin gewesen, bis sie sich selbst um ihr Leben brachte. Das war kurz vor jener Zeit, als Lena hier landete. Hier, in dieser kalten, unangenehmen, kleinen Welt voller liebloser Menschen. Hier, wo man einem Besserung versprach. Besserung, die nie in Sicht sein würde, auch nicht, wenn man alles Mögliche dafür tat...
"Niemals!!", schrie Lena laut schluchzend, so laut, dass Cathrin regelrecht erschrak.
"Aber Lena, was ist denn nur??" Besorgt und schnell ging sie auf Lena zu und legte ihre Arme um sie, versuchte, sie fest zu halten. Lena hingegen durchströmten auf einmal tausende von Gedanken. Mama... Joshuas Geburtstagsfeier... das Grillfest, damals bei Großmutter, der Ring, den sie von Jean bekommen hatte... Eve, die sich einen Schuss zuviel gesetzt hatte... die Nachbarskatze, die Punks, die sich immer in ihrer Straße herumgetrieben hatten... Vaters Gesicht...
Blitzschnell kamen und gingen die Bilder in Lenas Kopf. Doch beim letzten Bild blieb alles stehen - Jean...
Tränen rannen über Lenas Wangen. Dann begann das Bild vor ihren Augen zu verschwimmen und wurde dunkler, bis plötzlich nichts mehr davon zu sehen war. Lena war zusammengebrochen...