StillesWasser
1.000er-Club
Bestimmt kennt das jeder von uns, wenn wir vor einem leeren Blatt Papier sitzen und nicht wissen, was wir schreiben sollen. Schnell kommt dabei Kritik in uns hoch. Worüber, und vor allem, warum sollen wir schreiben? Wir sind doch eh nicht gut, unsere Geschichten bestenfalls mittelmäßig, unsere Ideen nicht originell genug. Dies ist der Anfang eines Formtiefs, welches in uns eine Schreibstörung hervorruft. Eine nette Person riet mir jedoch, mit dem Schreiben wieder zu beginnen - und dies kam dabei heraus. Nicht, dass ich vorher nichts geschrieben habe, jedoch waren dies nur "Morgenseiten", keine Texte, Briefe oder Geschichten. Inspiriert wurde ich durch eine Geschichte dieser Person und eine darauffolgende PN. Sie löste in mir das Bedürfnis aus, diesen Text zu schreiben. Mit diesem Text möchte ich weden Mitgefühl, noch Beileid oder sonst irgendwas bei den Lesern hervorrufen. Mir geht es darum, mich auszudrücken, etwas Persönliches (Wut, Trauer,...) von mir Preis zu geben. Bin gespannt, wer diesen Brief hier zu Ende liest und seine Meinung dazu äußert. Ich wäre gespannt auf ein konstruktives Feedback, würde mich darüber freuen. 

Lieber Papa!
Knapp sechseinhalb Jahre sind mittlerweile vergangen, in denen ich ohne Dich auskommen musste. Den Schmerz der ersten Monate habe ich längst überwunden, doch glaube nicht, dass er völlig von mir gewichen ist. Ein Teil davon ist allgegenwärtig, jedoch habe ich gelernt, das kräftezehrende Raubtier zu bändigen. Anfangs brannte es deinen Platz in meinem Herzen nieder, hinterließ nur noch einen Haufen Schutt und Asche. Dich zu verlieren konnte ich mir nicht vorstellen, nicht bewusst. Mit sechzehneinhalb Jahren denkt ein Jugendlicher nicht über den Tod und Verlust eines Menschen nach (schon gar nicht über einen, den man über alles liebt), setzt sich nicht wirklich mit diesem Thema auseinander.
Sicherlich merken Kinder, wenn ihre Großeltern sterben, doch ihnen ist es nicht wirklich bewusst. Wahrscheinlich sehen sie den Tod mit anderen Augen. Die Großeltern gehen auf eine Reise und kehren nicht mehr wieder zurück. Sie wurden zu Engeln und leben nun oben im Himmel, schauen auf uns herab, passen auf uns auf. Kindern wird so vieles erzählt. Nur nicht die Wahrheit, denn die ist schmerzhaft.
Schon als kleiner Junge habe ich viel Zeit mit dir verbracht, selbst an Wochenenden, wo du in der Firma arbeiten musstest. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich meine selbst ausgedachten Abenteuer bewältigte, während du deiner Arbeit nachgingst. Hauptsache, ich war in deiner Nähe. Glaube nicht, dass ich dich damals mehr brauchte als ich dich heute brauche. Ginge es nach mir, hätten wir unsere letzte gemeinsame Schlacht zusammen gewonnen, doch es sollte anders kommen. Dabei brauche ich dich heute genauso sehr wie damals als kleiner Junge und später in meiner Pubertät. Menschen wie dich brauchen wir immer, sie verändern die Welt zum Positiven. Ohne Menschen wie dich würde die Welt noch schneller zu Grunde gehen.
Wie blind muss ich gewesen sein, dass ich es nicht merkte? Wie naiv? Nur weil sie es gut meinten verschwiegen sie mir die Wahrheit, belogen mich. Erst als es nicht mehr unübersehbar war, sagten sie mir, wie es um dich stand. Ich genoss die Zeit, die uns beiden noch zusammen blieb. Jede einzelne Sekunde. Egal wie du aussahst und dich benahmst. Durch Computertomographien und Medikamente aufgebläht, der Kopf kahl, jedoch innerlich bliebst du wie früher. Zumindest am Anfang, doch mir war es egal. Für mich warst du immer du selbst. Mit meinen Augen sah ich immer nur den gesunden Menschen. Egal, was passierte, ich wollte bei dir sein, jede freie Sekunde. „Jedes Mal, wenn du deine Türe zum Wohnzimmer aufmachtest drehte er seinen Kopf, sah dich an und lächelte. Es hatte den Anschein, als ginge dabei jedes Mal die Sonne für ihn auf.“ Diese Worte werden mir immer im Gedächtnis bleiben, werden nie verschwinden. Ich vermisse dich. In diesem Augenblick vielleicht mehr als an anderen, jedoch unbewusst immer gleich stark. Dein Platz in meinem Herzen hat sich in den letzten Jahren verändert. Schutt und Asche wurden verweht, nun war Platz für einen Altar geschaffen worden. Ein Platz in meinen Herzen, an dem du immer blühen wirst, an dem ich immer gehen kann, wenn es mir nicht gut geht.
Sicherlich wäre es schöner, ich könnte einfach zu dir fahren und mit dir persönlich sprechen, doch dies geht nun einmal nicht – nicht mehr. Du gingst von uns, besser gesagt wurdest du von uns weggebracht, denn wer will schon freiwillig sterben, wenn er oder sie viele Menschen um sich hat, die er oder sie liebt und die ihn oder sie lieben? Doch das leben ist nun einmal nicht fair und so bist du nicht mehr hier – nur noch in den Herzen derjenigen, die dich lieben.
Ich vermisse dich! An diesem Tag stärker als an anderen. Ich kann mich gut an meine Matura erinnern. Sie ist für jeden etwas besonderes, sie ist das Ende und zugleich der Anfang eines neuen Lebensabschnittes. So gerne hätte ich mit dir zusammen meinen Erfolg gefeiert. Doch statt nach Hause zu fahren fuhr ich auf den Friedhof. Statt die Wohnungstüre zu öffnen und zu jubeln ging ich an dein Grab und war wütend. Wütend und traurig. Wie kannst du nur an jedem meiner Erfolge nicht mehr teilhaben? Warum nimmst du mir die Freude, meine Erfolge zu feiern? Ich will sie nicht mit anderen feiern, ich möchte sie doch mit dir feiern. Ohne dich ist es nicht dasselbe, es fehlt etwas. Nicht, dass ich mit dem Rest der Familie nicht feiern könnte, aber mit dir wären wir eins. Eine große Familie. Mittlerweile nicht mehr ganz so groß, aber der Kern, du, Mama, Silvia und ich. Du warst es immerhin, der die ganze Zeit an mich geglaubt hat. Andere bestimmt auch, aber nur dir wollte ich zeigen, dass ich es schaffen kann. Nicht mir, nicht den anderen. Nur dir wollte ich beweisen, dass ich alles erreichen kann, was ich mir vornehme. Doch nun, wo der Tag meines Erfolges gekommen war, fehltest du. Du warst nicht da. In meinem Herzen und im Herzen der anderen, die dich lieben, ja, doch nicht persönlich. So gerne hätte ich mit dir gefeiert, so gerne hätte ich mich mit dir gefreut, doch es wurde mir verwehrt – es wurde uns verwehrt.
Doch da begriff ich erst, dass dies nicht mein letzter Erfolg in meinem Leben sein würde und ich noch oft in diese Situation kommen werde. Es macht mir Angst, macht mich traurig, macht mich wütend. Nicht nur heute werde ich dich vermissen. An jedem Tag werde ich dich vermissen, nicht nur an denen, wo ich meine Erfolge feiere. Jede Stunde, Minute und Sekunde werde ich mich nach dir sehnen. Auch wenn du ganz nah bei mir bist - in meinem Herzen. Tränen helfen nicht, den Schmerz zu lindern. Schon gar nicht helfen sie, ihn zu besiegen. Genauso wenig wie du den Krebs besiegen konntest. Einmal ja, doch nicht nochmals. Es kostete zu viel Kraft. Kraft, die du nicht mehr hattest, obwohl die ganze Familie hinter dir stand. So gerne hätte ich gesehen, dass du auch diese Hürde schaffst, doch er war zu stark. Wenigstens bist du nicht im Krankenhaus von uns gegangen, sondern zu Hause bei der Familie, dort, wo dich immer wohl gefühlt hast. Hier wurdest du rund um die Uhr gepflegt, hier wurde mit dir rund um die Uhr gescherzt und gelacht. Ich kann mich noch gut an die letzten Augenblicke erinnern. Du rangst um Luft, hieltst immer wieder deinen Atem an. Jedes Mal, wenn das passierte, fehlte auch uns die Luft zum Atmen. Je öfter du dies machtest, desto tiefer war der Stich in unsere Herzen, desto stärker unser Schmerz. Rund um mich weinten sie alle, doch ich konnte nicht. Erst, als du deinen letzten Atemzug in unserem Heim machtest, stand ich auf und kniete mich zu dir. Dir blieb die Luft weg, du atmetest nicht mehr, du lagst einfach nur da. Wir warteten, doch du fingst dich nicht mehr, es war vorbei. An dieses Gefühl werde ich mich immer erinnern. Als hättest du mir den Hahn aufgedreht, als hättest du zu mir gesagt, jetzt könne ich weinen. Ich kann mich gut erinnern, wie ich mit dem Kopf auf deiner Brust gelegen bin und dich umarmte. Es war der Anfang von einem neuen Abschnitt. Einem Abschnitt ohne dich. Ein Abschnitt, der nicht mehr so sein würde wie zuvor.
Ich vermisse Dich! Ich liebe Dich!
PS: Nur eine halbe Stunde später, als ich den kalten, leblosen Körper im Wohnzimmer liegen sah, wusste ich, dass du es nicht mehr bist. Es war eine Hülle, nichts weiter. Ich verband keine Gefühle mehr mit der Gestalt auf dem Bett, ich wusste, du warst gegangen.