Mark öffnete die Türe zur Kirche und ließ, aus Höflichkeit dem weiblichen Geschlecht gegenüber, Janice vorgehen, welche unter dem Lärm ihrer auf den harten Boden aufkommenden Schuhe in einen verlassenen Raum kam. Dicht gefolgt stand Mark hinter ihr und suchte nach dem Pfarrer, als Janice zu sprechen begann.
„Setzen wir uns in die erste Reihe, dort können wir – fußfrei – in Ruhe miteinander sprechen.“
„Okay. Nach ihnen…“
Beide gingen sie in der Mitte des Raumes den Gang vor zum Altar, beide in Gedanken vertieft. Doch dieser Zustand hielt nicht lange an, denn als sie vorne angekommen waren, machten sie einen Fund, der für Mark schwerer zu verdauen war als für Janice. Vor der ersten Bank auf der linken Seite lag ein regungsloser Körper in einem schwarzen Talar. Das Gesicht des Mannes, dessen Augen noch offen standen, blickte in Richtung Altar. Es sah so aus, als hätte er in den Minuten seines Todes noch zu Gott gebetet, doch kam niemand, der ihn erlöste. Die Todesursache war Mark und Janice unbekannt, denn sie fanden keine äußerlichen Merkmale, kein Blut, keine Spuren von Gewalt. Für Mark war dies in diesem Moment zu viel, da er durch den Pfarrer die letzte Person verlor, die ihm näher stand, kannte er ihn mittlerweile schon etliche Jahre. Mark setzte sich in die erste Bank auf der rechten Seite, während Janice den Pfarrer noch untersuchte. In Gedanken voller Erinnerungen, Trauer, Schmerz und Freude eingetaucht, sah er nicht, dass Janice anscheinend etwas herausfand, als sie den Leichnam untersuchte. Einige Minuten vergingen, da stand sie auf, ging zu Mark und setzte sich fragend neben ihn.
„Was ist denn los? … Mark? … Mark?!“
„Ach, nichts… Hier liegt ein Toter, den ich sehr gut kannte… Die Polizei sucht nach mir, obwohl ich nicht weiß, warum… Ich habe diese Erscheinungen, die mich beschäftigen… Mir ging es noch nie besser!“
„Was sagten sie? Sie hatten Visionen?“
„Ja… Aber was spielt das jetzt für eine Rolle? Hier liegt eine Leiche, direkt neben uns… Was sollen wir nur machen?!“
„Es spielt sehr wohl eine Rolle, doch können sie es anscheinend noch nicht begreifen.“
„Wie?! Nicht begreifen?! Na wenn sie es doch anscheinend begreifen, warum erzählen sie es mir dann nicht?!“
„Mark, glauben sie an Gott?“
„Was soll das jetzt?! Was hat das verda… Was hat das jetzt damit zu tun?!“
„Es gibt Phänomene, für die es nur eine Erklärung gibt, wenn es Gott gibt. Und Gott gibt es, genauso wie es Engel, Dämonen und den Teufel gibt.“
„Sie scherzen, oder? Ich mein, das können sie doch nicht Ernst meinen… Meinen sie doch nicht, oder? Es klingt so… Es klingt so… so verrückt…Sie nehmen mich auf den Arm, wie?“
„Es ist wahr, sie existieren – mehr oder weniger. Luzifer wurde während seiner Rebellion gegen Gott, damals war er noch ein Diener des Herrn – ein Engel – von Michael und dessen Legion in einer gigantischen Schlacht geschlagen und in die Unterwelt verbannt, wo er nun auf seine Befreiung wartet. Diener Luzifers versuchen nun, die Tore zur Unterwelt zu öffnen, während sie zeitgleich eine neue Armee von Dämonen züchten.“
„Hören sie sich eigentlich selbst sprechen und glauben auch noch das, was sie sagen? Es klingt so verrückt… Nein, das ist nicht verrückt… Sie… Sie sind verrückt!“
„Doch sie sprachen vorher von Visionen. Wie erklären sie sich diese Erscheinungen?“
Für einen Moment saß Mark kopfschüttelnd auf der Bank, vor Verlegenheit lachend, und konnte nicht glauben, was er gesagt bekam. Ein Weltbild des rationalen Denkens zerbrach für ihn in ein einen Haufen Staub, wusste nicht mehr, was er glauben sollte. Nicht nur, dass für ihn alles so verwirrend war, nein, nun musste er auch noch mit seinem Glauben hadern, den er schon vor vielen Jahren verlor. Doch im nächsten Moment versuchte er sich zu beruhigen, blickte ratlos und ohne eine Idee, wie es weiter gehen soll, zu Janice.
„Was wissen sie über Visionen?“
„Nicht grundlos bekommt man sie, Mark. Egal, welche Bilder sie gesehen haben, sie stehen in gewisser Verbindung zu ihnen.“
„Sie denken also, Detective Marqués steht in gewisser Verbindung zu mir? Vielleicht können sie mir das näher erklären, denn ich habe sie vor diesen Visionen noch nie zuvor gesehen… Wissen sie was? Langsam glaube ich, wird mir alles ein bisschen zu viel.“
„Sie haben Ileana gesehen? Erzählen sie schon, was haben sie gesehen?“
„Was ich gesehen habe? Nicht viel… Ich sah immer nur ein Bild, Detective Marqués, in einem blutgetränkten, verschmutzten Kleid.“
„Das sahen sie? Nicht mehr?!“
„Nein, nicht mehr. Heute sprach ich mit dem Pfarrer darüber, welcher mir sagte, es wäre eine Gabe Gottes, dass ich in die Zukunft sehen könne. Er sagte auch, man könne diese Visionen selbst steuern, nur kostet es viel Anstrengung.“
„Eine Gabe ist sie in der Tat, doch muss ich sagen, dass nicht jeder Helfer Gottes über diese Gabe verfügt. Jeder Helfer kann über eine andere Gabe verfügen. Doch dazu später mehr. Los, lassen sie uns von hier verschwinden, bevor noch jemand sieht.“
„Und was ist mit dem Pfarrer?! Wollen wir ihn einfach so liegen lassen?!“
„Nein, natürlich nicht, aber sie müssen mir helfen.“
Bei diesen Worten dachte Mark daran, ihn weg zu tragen, jedoch lag er anscheinend falsch, denn Janice machte keine Anzeichen, den Pfarrer anzufassen – zumindest nicht so, wie man es machen würde, wollte man einen Körper hochheben. Verwirrt blieb Mark neben Janice stehen und beobachtete sie, wie sie ihre Augen schloss und sich anscheinend auf irgendetwas konzentrierte. Nach einem kurzen Moment öffnete sie Janice langsam wieder und kniete sich neben dem Pfarrer, legte die linke Hand auf dessen Oberkörper und sah Mark konzentriert an.
„Kommen sie, Mark, knien sie sich neben mich. Nehmen sie meine rechte Hand und beten sie mit mir.“
Noch immer mehr als verwirrt, starrte Mark Janice und den Pfarrer an, kniete sich nieder und fasste nach ihrer Hand. Kaum hatte er sie berührt, spürte er eine ihm fremde Energie, wodurch er am liebsten zurückgezuckt wäre, doch konnte er nicht. Obwohl er kein Gebet kannte, wusste er doch, was er sagen musste. Es gab alles keinen Sinn, doch nahmen die Ereignisse ihren Lauf. Innerlich fragte sich Mark, ob auch eine Zeit kommen würde, in der er alles verstehen würde – irgendwie bezweifelte er es.
Herr, Gott im Himmel, wir beten und trauern um die Seele dieses Mannes. Es schmerzt uns sehr, dass er nicht mehr unter uns weilt, hat er doch in Deinem Namen große Taten vollbracht. In den Zeiten der Not war er immer für uns da, hat uns immer den rechten Weg gewiesen. Doch auch in Zeiten der Freude war er für uns da, konnte mit uns lachen. Sein Tod kam zu früh, wurde nicht nur Deine, sondern durch die Hand des Bösen auf die Reise geschickt. Er war mehr als nur unser Wegbegleiter, der uns in Zeiten der Not den Weg wies, er war unser geliebter Bruder. Nun beten wir zu Dir, in der Hoffnung, Du weist ihm den Weg in seinem neuen Leben, wie er ihn uns auf Erden wies. Wir werden weiterhin Deinen Willen ausführen, auch wenn dieser Mann uns nicht mehr unterstützen kann. Bruder, wir werden Dich nie vergessen.
Amen
Kaum war das Gebet gesprochen, erschien ein heller Lichtstrahl durch ein Fenster der Kirche, welcher sein Ende direkt auf den Pfarrer fand. Rund um die linke Hand von Janice erschien ein noch helleres Licht, während sie ihr Gesicht, anscheinend durch einen innerlichen Schmerz, leicht verzerrte. Doch schon nach wenigen Sekunden erlosch das Licht wieder und der Leichnam des Pfarrers löste sich auf. Erschrocken wich Mark zurück, fiel rückwärts auf den harten Kirchenboden. Er konnte nicht begreifen, was gerade geschehen war, doch löste es eine gewisse Angst aus. Nervös blickte er um sich, bevor er zu Janice blickte und sie, halb fragend, halb panisch, anblickte.
„Wie… Wie kann…? Nein, das ist nicht möglich! Was ist passiert?? Was haben sie gemacht??“