Nach einigen Minuten des Schweigens, in denen Rowan wie erstarrt vor sich hinblickte, unfähig, die Umgebung zu identifizieren und ein Wort herauszubringen, gelang es ihr schließlich doch, sich aus der Erstarrung zu lösen und mühsam stammelte sie einige Worte: „Wo, wo sind wir hier?“ Verunsichert schaute sie sich um und zog fröstelnd ihren Nachtmantel enger um sich. Erst jetzt erkannte sie ihre Umgebung. Lange war sie nicht mehr hier gewesen. Das letzte Mal, als ihr Onkel starb. Denn sie befanden sich mitten auf dem Zentralfriedhof der Stadt. Auch wenn Rowan gedacht hatte, dass sie nach dieser ereignisreichen Nacht nichts mehr schocken konnte, war sie dennoch überrascht. Was taten sie hier? Sie blickte Phoebe verzweifelt und fragend zugleich an, doch diese reagierte nicht auf ihre lautlosen Fragen, sondern blickte sie nur stumm und traurig an.
„Was, was wollen wir hier?“ Wortlos deutete Phoebe auf einen Grabstein, der genau vor ihnen stand. Rowan musste sich anstrengen um im Dunkeln den Namen zu erkennen, wusste sie auch nicht wirklich, worauf Phoebe hinauswollte. Dann war es ihr als fasste eine kalte, grausame Hand nach ihrem Herzen und drückte zu. Sie keuchte auf. Das konnte nicht sein. Nein! Rowan stieß einen leisen Schrei aus und trat näher. „Was? Wieso?“
Phoebe blickte sie an, traurig und wehmütig. „Du kannst es lesen. Du siehst, dass auf diesem Grabstein ROWAN SLOOTEE eingemeißelt ist.“ „Das ist mein Grab? Wieso? Wie? Woran bin ich gestorben? Und wann? Warum steht nicht eine einzige Kerze auf meinem Grab?“
Rowan, völlig unter Schock stehend, stellte stotternd alle Fragen, die ihr in den Kopf kamen, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Sie tot? Niemals! Das konnte nicht sein. Sie war doch lebendig! Trotzdem ragte hier drohend ihr eigener Grabstein von der kalten Wintererde auf in den Nachthimmel.
Phoebe schaute sie weiter unglücklich an. „Gestorben bist du erst letzte Nacht, also in einem Jahr, aber keiner ist gekommen dir die letzte Ehre zu erweisen. Sie wollten dich nur so schnell wie möglich unter die Erde bringen.“
Der Schrecken stand Rowan nun deutlich ins Gesicht geschrieben. Nach Pipers „Besuch“ hatte sie gedacht, dass es nicht mehr schlimmer kommen konnte. Wie hatte sie nur so naiv sein können? Dies hier war die schrecklichste Erfahrung, die sie je gemacht hatte. Sie versuchte Phoebes Worten zu folgen, doch sie verstand deren Sinn nicht.
„Aber kein einziger ist gekommen? Wieso nicht? Niemand, wirklich niemand?“ „Tut mir leid, aber es stimmt. Niemand kam.“ Phoebe mochte Rowan nicht in die Augen sehen.
„Du weißt auch warum, Rowan. Du bist hart und kalt geworden. Alle Freunde traten aus deinem Leben, du vergraultest alle.“
„Gibt es denn keine Hoffnung mehr für mich? Warum quälst du mich damit, wenn mein Schicksal schon bestimmt ist?“ In Rowan stieg Panik auf. Sie erschrak bei dem Gedanken, dass sie ja dann nur noch ein Jahr zu leben hätte.
"Wie dein Leben weitergeht, liegt in deinen Händen, doch wenn du so weiterlebst wie bisher, wird es so enden, wie du es heute Nacht gesehen hast.“ Rowan ergriff Phoebes Hand. „Ich verspreche, ich werde mich bessern! Ich werde ab morgen ein anderes Leben führen!“ Phoebe antwortete nichts mehr. Sie erkannte in Rowans Augen den Eifer des Augenblicks, eine Gefühlsregung, die wohl jeder Sterbliche in ihrer Situation gezeigt hätte. Im letzen Moment nach Strohhalmen zu greifen, das war weder für sie noch für viele andere etwas Ungewöhnliches. Doch Phoebe meinte auch noch etwas Tiefergehendes in den Augen ihres Gegenübers zu sehen. Neben dem Schock und dem spontanen Willen etwas zu ändern, war da vielleicht auch die Einsicht. Die Einsicht, dass sie die letzte Chance, die ihr hier gegeben wurde, nicht verspielen durfte.
Phoebe brachte Rowan zurück in ihr Bett. „Es liegt nur an dir.“ Mit diesen Worten verschwand sie.
Am Morgen des ersten Weihnachtstages stand Rowan wie gewöhnlich früh auf, doch sie ging nicht wie sonst direkt ins Büro. Die Schrecken der vergangenen Nacht saßen noch tief in ihren Knochen und so ging sie als erstes an ihren PC. Von dort aus spendete sie zunächst via e-Banking eine größere Summe an Amnesty International, Unicef und weitere Hilfsorganisationen. Dann fuhr sie in einen 24-Stunden-Shop, wo sie alles für ein wirklich großzügiges Weihnachtsessen einkaufte. Mit diesem Festmahl fuhr sie dann zum Kinderheim, dass ihr die Schwestern in der letzten Nacht gezeigt hatten. Es war die Zeit gekommen wieder zu ihrem alten Ich zurückzufinden, die lebensfrohe Rowan unter dem ganzen Staub des Geizes und der Verbitterung wieder hervorzuholen. Sie realisierte, dass ihr gnädigerweise eine allerletzte Chance gegeben worden war, das Ruder herumzureißen und ihr Leben wieder auf die richtige Bahn zu lenken. „Das Ruder herumreißen...“, murmelte sie, während sie mit voll beladenen Tüten in den Händen die Treppen zum Kinderheim erklomm.
Phoebe war in der Zwischenzeit zu Piper und Prue zurückgekehrt. Sie wusste, dass sie ihre Aufgabe erfüllt und in Rowan den Drang geweckt hatten ihr Leben zu verändern. Mehr konnten sie nicht tun. Nun lag es ganz allein an der jungen Frau, den Eifer des Moments in den Alltag hinüber zu retten.
Ihre Aufgabe hatten sie also erfüllt. Jetzt konnten sie sich endlich dem eigenen Weihnachtsfest zuwenden. Ein Wunsch brannte Phoebe auf der Seele: „Prue, kannst du noch eine Weile bei uns bleiben?“, fragte sie ihre älteste Schwester. Sie wusste, dass Prue sie wieder würde verlassen müssen, jedoch bestand vielleicht die Möglichkeit zu einem gemeinsamen Weihnachtsfest. „Nur bis Mitternacht des ersten Weihnachtstages, Phoebe. Der Zauber wirkt für die Dauer des ersten Weihnachtstages.“ Piper schaute sie strahlend an. „Dann kannst du ja Paige kennen lernen!“