Milan traute den Worten nicht, die ihren Mund verließen. Ihre Stimme drang dumpf an sein Ohr und ein taubes Gefühl breitete sich in ihm aus. Die Dornenklaue transformierte sich wieder zu einer menschlichen Hand. Die andere Hand ließ das Amulett klirrend fallen. Er sank auf die Knie und vergrub seinen Kopf in seinen Armen. Minutenlang verharrte er so, während Grazia reglos am Fenster stand und es rückgängig machen wollte. Ihre Gefühle wurden beherrscht von dem schlechten Gewissen, welches an ihr nagte. Wie konnte sie dem, den sie so liebte, wehtun, auch wenn ihre Eltern über Roman durch ihn gestorben waren? Plötzlich zitterte Milan am ganzen Körper und dieser Körper war nicht mehr fähig das Böse zu halten. Die Haut rissig und ausgemergelt pulsierte und brach unter dem, was aus Milan herauszudringen drohte. Grazia öffnete panisch erregt die Fensterklappen und stieg auf das oberste Brett bereit herauszuspringen. Mit dem Rücken zu ihm spürte sie doch, dass das Etwas hinter ihr sie anstarrte und selbst dieser Blick sie wie stechenden Klingen traf. „Grazia...,“, würgte der zusammengeschrumpfte menschliche Teil in ihm hervor und ein hervorschnellender Arm riss sie herum. Ihre schönen Gesichtszüge erstarrten wie in filigranes Porzellan gemalt, als sie immer noch nicht wagte ihn anzuschauen, doch im Standspiegel, den ihre Mutter immer so geliebt hatte, Anteil nahm. Blutunterlaufene Augen schauten sie hilflos an und bis auf das, war er kaum mehr ein menschliches Wesen. „Grazia, hör zu was ich dir jetzt sage, denn vielleicht werde ich nie mehr das sein, was ich jetzt bin, bitte!“, flehten diese Augen und zögerlich streiften ihre Blicke ihn kurz, bevor sie sich wieder dem am Himmel stehenden Mond hinter dem wolkenverhangenen Himmel zuwandte, der mittlerweile ins tiefste Schwarz getaucht war. Ihr wohlbehütetes Elternhaus sollte ihr zum Verhängnis werden, sollte er sie doch lieber töten, anstatt die seelischen Wunden immer wieder zu öffnen. „Grace, dies am Boden ist nicht dein Amulett, ich weiß, dass Roman deine Eltern tötete, doch ohne sein Amulett ist er nun schutzlos. Gib es ihm zurück, sobald du wieder im Schloss bist, sonst hilfst du ihm nicht, sondern schadest ihm nur. Denn du schützt ihn so auch nicht vor seinem Dornenvogel.“ Das Sprechen strengte ihn an und er war der Last der sich im Raum ausbreitenden Schwingen nicht gewachsen und nicht fähig aufzustehen. Grazia realisierte, dass sie ihn zum letzten Mal sah, auch wenn der Fluch irgendwann von ihn gewichen sein würde, würde er sich nicht mehr an sein Leben erinnern und nur noch ein seelenloses Abbild seiner Selbst sein. Bedacht kniete sie vor ihm nieder und strich vorsichtig über die entstandenen Striemen die seinen Körper übersäten. Er zitterte noch immer und hielt sie zurück. „Lass! Du tust dir nur weh...ich fühle die Schmerzen kaum.“, keuchte er und sie wusste sehr wohl, dass dies eine gutgemeinte Lüge war, denn er litt Todesqualen, selbst als er ihr ein Lächeln schenken wollte, artete es nur mehr in einer Grimasse aus.
Grazia zog ihre Beine an und stützte den Kopf an der Bettkante ab, bereit ihm zuzuhören. Nach einer kurzen Pause rang Milan sich wieder ein paar Worte ab, während die Dornen ihn fast schon bis auf die Knochen verarmt hatten. „Ich liebe die Dunkelheit. Ich kann dann fast vergessen, wer ich bin, was um mich herum geschieht...
Wenn es dunkel ist sieht niemand, wie ich in einer Ecke meines Zimmers sitze, schwach, verletzlich... der Geist gebrochen. Die Dunkelheit erlaubt mir noch, zu träumen, von einem besseren, gerechteren Leben. Schattengestalten rasen über die Wände, verschmelzen zu gewaltigen Gestalten der Nacht und fließen weiter...
Dann lässt er mich in Frieden verstehst du...aber diese Momente sind so selten. Jedes Mal, wenn deine klaren Augen zu mir herüberblicken, sei es auch nur für flatterhafte Sekundenbruchteile, dann setzt mein Herz aus, und ich glaube sterben zu müssen... Deine Augen... ich glaube, in deinen Blicken steckt fast ein wenig Zärtlichkeit, aber ich kann es nicht genau sagen... da sind noch zu viele andere Gefühle mit drin, Angst, Trauer...
Wie gern würde ich dir helfen, dich wieder in deiner eigenen Haut wohl zu fühlen...
Aber ich habe mein Schicksal gezogen, und es lässt sich nicht mehr umtauschen. Im schicksalhaften Leben eines Dornenvogels ist kein Platz für Gefühle, und schon garnicht für die Liebe.
Und außerdem, wenn ich in die Welt der Dornenvögel gehen muss... dann werde ich dich verlassen, und du wirst dir jemand anderes suchen und mich vergessen... Wie auch alle anderen in der Welt der Normalsterblichen. Der Fluch bricht sich in allem was ich sehe, an Reflexionen und ich kann ihm nicht entfliehen, er beherrscht mich...“ Wieder brauchte er ein paar Minuten des Schweigens, wobei er schwer und hörbar atmend die Luft brauchte, die ihm der Dornenvogel abschnitt. Über Grazias Wangen rannen Tränen. Sie gab niemandem mehr die Schuld am Tod ihrer Eltern. „Es tut mir alles so leid, ich hätte es besser wissen müssen, ich war so verbittert, dass ich dachte du fühltest dich wohl und würdest uns stürzen wollen, doch ein Gefühl war immer stärker, ich liebe dich!“ Und sie hauchte ihm mit ihrem Kuss auf die aufgesprungenen Lippen wieder etwas Lebenswillen ein, der ihm nicht mehr helfen konnte. Sie schmeckte mit der Berührung sein Blut. „Ich werde sterben Grace, er nimmt mir mein Leben, ich hoffe, mir bleibt die Macht ihn vom Silberpalast fernzuhalten. Wenn du mich je wiedersiehst, versprich mir bitte mich zu töten!“ Seine Klauen ergriffen sie so behutsam wie möglich und gaben ihr zu verstehen, dass dies sein letzter Wunsch war.