Dies irae – Das jüngste Gericht
Der Lärm des nächtlichen Washingtons dringt an die Ohren der jungen Frau, die durch eine dunkle Seitengasse zu ihrem Wagen geht. Als sie Geräusche vernimmt, werden ihre Schritte eiliger, bis ein Schatten vor ihr auftaucht und sie wie erstarrt stehen bleibt. Ihre Atmung beschleunigt sich noch weiter, und ihr Herz schlägt beinahe schmerzhaft gegen die Rippen. Trotzdem ist sie unfähig, sich zu bewegen und vor der offensichtlichen Gefahr zu fliehen oder auch nur einen Ton über ihre Lippen zu bringen. Die dunkle Gestalt bewegt sich langsam aus der Dunkelheit auf sie zu, das Gesicht unter einer schwarzen Kapuze verborgen.“Es ist Zeit, für deine Sünden zu bezahlen“, zischt der Unbekannte heiser und zieht einen silbernen Revolver aus der Jackentasche. „Endlich bekommst du deine gerechte Strafe. Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer.“ Ihre Kehle ist wie zugeschnürt, lediglich ein kläglicher Laut verlässt ihren Mund, und ihre angstvoll aufgerissenen Augen starren die Gestalt an. Seine schneidende Stimme brennt sich in tief ihr Gehirn, umgeben von dem hektischen Geräusch des entfernten Straßenlärms. Der laute Knall, als er die Waffe aus der kurzen Entfernung auf sie abfeuert, scheint beinahe wie eine Erlösung aus dieser grausamen Wirklichkeit. Mit dem Bild ihres Mörders, dessen Kapuze in diesem Moment von einem Windstoss enthüllt wird, vor Augen sinkt sie zu Boden...
Es ist kurz nach sechs Uhr morgens, und der Wecker auf dem Nachttisch klingelt bereits seit geraumer Zeit, als der junge Agent sich seufzend umdreht, um den Störenfried endlich zum Schweigen zu bringen. Im gleichen Moment lässt er sich zurück in sein Kissen fallen, schließt erneut die Augen und fährt erst eine Viertelstunde später erschrocken wieder hoch. „Verdammt, es ist Samstag“, schimpft er leise vor sich hin, während er aus dem Bett springt, seine Klamotten heraussucht und unter die Dusche hastet.
Fünf nach Sieben öffnet sich die Fahrstuhltür zum Squad Room des NCIS-Headquarters mit einem leisen Pling, ein gehetzter Special Agent tritt heraus und eilt auf seinen Schreibtisch zu. „DiNozzo!“, die wütende Stimme lässt den Angesprochenen in seiner Bewegung innehalten, ehe er sich zu seinem Vorgesetzten umdreht. „Du kommst schon wieder zu spät.“ Der junge Mann versucht sich zu rechtfertigen: „Ich bin in einen Stau geraten, und außerdem waren es nur fünf Minuten.“ Ein finsterer Blick hält ihn von einem weiteren Erklärungsversuch ab, und er setzt sich genervt auf seinen Schreibtischstuhl: „Es ist Samstag, und wir müssen arbeiten.“ Und dieser würde wohl sehr lang und stressig werden, zumal Gibbs in letzter Zeit nicht die beste Laune hatte. Schon seit einigen Wochen bearbeiteten sie verzweifelt verschiedene seltsame Mordfälle, und immer mehr erhärtet sich der Verdacht, dass sie es mit einem Serientäter zu tun haben. „Da wir ja endlich vollzählig sind, können wir los“, mit diesen Worten reißt der Chefermittler seinen ranghöchsten Agenten aus seinen Gedanken und läuft zielstrebig auf die Treppe zur oberen Etage zu. Tony wirft seinen Kollegen einen fragenden Blick zu, doch nachdem er nur ein unwissendes Schulterzucken als Antwort erhält, springen die drei auf und hasten ihrem Boss hinterher.
Gerade als der Chefermittler die Tür zum Besprechungsraum öffnet, erscheint die Direktorin des NCIS im Türrahmen: „Gut, dass sie da sind, Special Agent Gibbs. Das Team vom FBI wartet bereits auf Sie.“ Die drei jungen Agenten werfen sich einen verwirrten Blick zu, ehe sie hinter ihrem noch immer finster drein blickenden Boss den Raum betreten. „Das sind sie Special Agents Aaron Hotchner und Jason Gideon von der BAU in Quantico und das ist der verantwortliche NCIS-Teamleiter Special Agent Jethro Gibbs“, fährt Jen fort, während sich die Angesprochenen die Hand schütteln. „Unser Team, die Special Agents Morgan, Greenaway und Dr. Reid. Special Agent Jareau ist verantwortlich für die Pressearbeit, und unsere technische Expertin Garcia wird uns von Quantico aus unterstützen“, ergreift Gideon das Wort. „Die drei hinter mir sind die Special Agents DiNozzo, McGee und Officer David“, stellt Gibbs sein Team knapp vor und beginnt sofort, Aufgaben zu delegieren: „McGee, du sagst Abby, sie soll sich mit Garcia in Verbindung setzen und eine Videoverbindung für uns einrichten.“ Dann wendet er sich an die FBI-Agents: „Abigail Sciuto ist unsere Forensikerin, sie wird ihre Mitarbeiterin unterstützen.“ Nach einem kurzen Moment fährt er fort: „Sie werden sicherlich die Akten gelesen haben, aber wir sollten Ihnen trotzdem unsere Ermittlungen kurz erläutern. Seit sechs Wochen werden wir an jedem Sonntag zu einer Leiche gerufen, deren Todeszeitpunkt jedes Mal mit dem Ende der Abendmesse überein stimmt. Drei der Opfer sind weiblich, drei männlich. Das Alter liegt zwischen 24 und 52, außerdem sind zwei schwarz, die anderen weiß. Es gibt keinen erkennbaren Opfertyp, aber alle wurden mit der gleichen Neunmilimeter aus nächster Nähe in den Kopf geschossen, also richtig gehend exekutiert. Es gibt keinerlei Anzeichen für Gegenwehr. Außerdem befanden sich die ersten Tatorte in der Öffentlichkeit, die letzten beiden dagegen wurden zu Hause ermordet.“ Der Chefermittler stützt sich auf dem Tisch ab und mustert Hotch mit seinen eisblauen Augen eindringlich, der sofort unbeirrt seine Überlegungen mitteilt: „Das deutet auf einen selbstsicheren, organisierten Täter hin. Unsere Musterung der letzten beiden Tatorte bestätigt diesen Verdacht. Wahrscheinlich hat er seine Opfer über längere Zeit beobachtet und verfolgt. Konnten Sie irgendeine Verbindung zwischen ihnen herstellen?“ Auf diese Frage hin ergreift McGee das Wort: „Durch eine Computeranalyse haben wir alle Daten der Opfer verglichen und sind schließlich darauf gestoßen, dass alle überführte Täter in Fällen waren, in denen Special Agent Gibbs ermittelt hatte.“ Nun mischt sich auch Gideon ein: „Morgen ist Sonntag, das heißt, wir müssen so schnell wie möglich herausfinden, in welchem Zusammenhang die Morde mit den damaligen Fällen stehen. Welche Straftaten wurden ihnen vorgeworfen?“ Diesmal antwortet DiNozzo: „Raub, Einbruch, falsche Verdächtigungen, schwerer Diebstahl, Prostitution und Mord.“ „Dekalog“, wirft Reid nun überzeugt ein, doch die Anwesenden sehen ihn fragend an, deshalb erklärt er: „Die Zehn Gebote, auch Dekalog. Sie gelten im Tanach, der Hebräischen Bibel, als die wichtigste Zusammenfassung des Willens Jahwes, des Gottes der Israeliten. Mit ihnen beginnt dort Gottes Offenbarung am Sinai. Daher gelten sie im Judentum und Christentum als Zentrum und Inbegriff der Tora für das Verhalten gegenüber Gott und den Mitmenschen.“ „Der ist ja schlimmer als McGeek“, zischt Tony und erntet einen strengen Blick von seinem Boss. „Ich glaube, der Mörder ist Jude“, stellt Ziva eine erste Theorie auf. „Im Christentum hat die Gebotserfüllung aufgrund der bereits im Glauben empfangenen Erlösung nicht den Stellenwert, den sie im Judentum hat. Dort hängt das Heil von der Befolgung ab.“ Reid stimmt ihr sofort zu: „Genau. Dies entspricht dem Wortlaut der Gebote, die als Indikative formuliert sind, den Einzelnen als Teil des Gottesvolks anreden und nicht in das Belieben seiner Entscheidung gestellt sind. Wer sie nicht befolgt, hat dann die Folgen zu tragen. Die rabbinische Tradition betont die Gleichrangigkeit von Gottes- und Nächstenliebe, so dass man Gott nicht lieben kann, ohne die konkreten Sozialgesetze der Tora zu erfüllen. Wesentliches Element vieler jüdischer Auslegungen ist der Dekalogobersatz: 'Ich bin der HERR, dein Gott, der dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft geführt hat', der als Begründung sowohl des ersten Gebots als auch der ganzen Gebotsreihe angesehen wird: Gott hat sein Volk befreit, deswegen soll das Volk keine anderen Götter haben und seine Gebote befolgen.“ Darauf äußert nun Morgan eine Vermutung: „Der Täter sieht sich selbst als Gott.“
Es ist Sonntagabend und im Headquarter herrscht seit dem frühen Morgen rege Betriebsamkeit, sowohl NCIS- als auch FBI-Agenten arbeiten auf Hochtouren, jedoch ohne Erfolge zu erzielen. Agent Hotchner wendet sich an Gibbs: „Special Agent Jareau hat heute Vormittag eine Pressekonferenz abgehalten.“ „Wieso haben Sie mich über dieses Vorgehen nicht zuvor informiert?“, fragt dieser wütend. „Es war alles mit Ihrer Direktorin abgesprochen.“ „Ich bin hier der Teamleiter und nicht sie“, gibt der Chefermittler noch immer gereizt zurück, doch Gideon erläutert unbeirrt das Ziel ihrer Aktion: „Agent Jareau hat den Täter als unorganisierten Typ ohne Motiv beschrieben. Wir hoffen, ihn so aus der Reserve zu locken. Der Mörder ist auf Selbstjustiz, aber gleichzeitig auch auf Anerkennung aus, und er wird aus diesem Grund Kontakt mit uns aufnehmen.“ In diesem Augenblick klingelt das Telefon des Chefermittlers, und er hebt sofort ab: „Gibbs... Ja, wir kommen.“ Ohne einen weiteren Gruß legt er den Hörer auf und wendet sich an die Umstehenden: „Leiche in der Nähe des Anacostia Parks. Er hat Kontakt aufgenommen. Tony, hol den Truck. McGee, sag Ducky Bescheid.“ Die Agenten beider Behörden packen ihre Sachen zusammen und eilen zu Aufzug.
Kurz vor Mitternacht treffen die Agenten am Tatort ein und finden die Leiche einer jungen Frau vor, die in dem selben Muster wie die letzten Opfer ermordet wurde. Während das Team des NCIS den Tatort untersucht, versuchen die Profiler, sich ein genaueres Bild des Mörders zu machen. „Ducky, was kannst du uns sagen?“, fragt Gibbs den Pathologen, der sich sofort an ihn sowie Hotch und Gideon wendet: „Der Todeszeitpunkt stimmt ziemlich wahrscheinlich mit dem der anderen Leichen überein. Die Todesursache ist wohl der Kopfschuss, andere Wunden oder Abwehrverletzungen sind nicht erkennbar. Mit Sicherheit kann ich das aber wie immer erst nach der Autopsie sagen.“ Der Chefermittler nickt Dr. Mallard zu, als Ziva ruft: „Er hat uns eine Nachricht hinterlassen: 'Dies irae dies illa, Solvet saeclum in favilla: Teste David cum Sibylla.'“ „Tag der Rache, Tag der Sünden, Wird das Weltall sich entzünden, wie Sibyll und David künden,“ übersetzt Reid sofort, und Gideon erklärt: „Wir sollten zum Headquarter zurück fahren. Wir haben ausreichend Informationen, um ein Profil zu erstellen.“
Die beiden Teams haben sich gerade im Besprechungsraum des NCIS eingefunden, als Abby herein stürmt: „Gibbs, Gibbs, wir haben etwas entdeckt. Garcia und ich haben die Gerichtsdatenbanken gecheckt. Alle eure Opfer sind bei ihren Prozessen freigesprochen worden.“ „Danke Abbs. Sucht weiter nach irgendwelchen Verbindungen zwischen den Verfahren“, erwidert der Chefermittler, und die Forensikerin verlässt nach einem Nicken das Zimmer. Nach dieser neuen Information beginnt Special Agent Hotchner mit den Ausführungen: „Bei diesem Serienmörder handelt es sich um einen weißen Mann zwischen 35 und 45. Er ist sehr selbstsicher, organisiert und gehört dem Mittelstand an. Trotzdem fühlt er sich nicht genug beachtet, sowohl in seinem Beruf als auch im Privaten. Deshalb sucht er Bestätigung.“ Nun fährt Elle fort: „Wahrscheinlich hat er selbst ein Unrecht erlebt, das ungestraft geblieben ist. Aus diesem Grund übt er Selbstjustiz.“ „Die Botschaft, die uns der Täter hinterlassen hat, bezieht sich auf das jüngste Gericht, dies irae. Bei Mattheus 25, Vers 31 - 46 sagt Jesus: 'Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, ...' und schließt: 'Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben.'“, erläutert Reid die Bedeutung der Nachricht. „Das Neue Testament übernimmt und überhöht die Vorstellung eines endzeitlichen Weltgerichtes als Anmahnung des nahen Gerichtes über alle Lebenden und Toten. Es entscheidet über ewiges Leben und ewige Verdammnis und ist notwendiges Moment der endgültigen und vollständigen Errichtung des Reichs Gottes.“ In diesem Augenblick klingelt Morgans Handy, und nach einem kurzen Telefonat berichtet er: „Garcia hat was gefunden. Wir sollen in dem Videokonferenzraum kommen.“ Als sich kurz darauf alle Agenten vor dem großen Bildschirm versammelt haben, erscheint das aufgeregte Gesicht der Technikerin: „Wir haben ihn gefunden. Nachdem wir alle an den Prozessen beteiligte Personen verglichen haben, sind wir auf Sean Johnson gestoßen. Er ist Protokollführer und war als einziger bei allen Verfahren eingesetzt. Dann haben wir seinen Namen durch die Datenbanken laufen lassen und festgestellt, dass er vor drei Jahren Geisel eines Banküberfalls war. Dabei ist er verletzt worden. Die Verdächtigen waren Navy-Angehörige, doch ihnen konnte nie etwas nachgewiesen werden.“ „Ich erinnere mich an den Fall“, erklärt Gibbs nachdenklich. „Trotz eingehender Untersuchungen hatten nur Indizien gegen sie, die der Verteidiger sofort abgeschmettert hat. Deshalb ist er hinter meinen Ermittlungen her.“ In diesem Moment ertönt Abbys Stimme: „Und wir haben seine Adresse ausfindig gemacht.“ Der Chefermittler nimmt ihr den Zettel aus der Hand und mit einem „Gut gemacht.“ wendet er sich an die übrigen Agenten: „DiNozzo, McGee, David, ihr kommt mit mir. Agent Hotchner, nehmen Sie ihre Leute. Wir statten ihm einen Besuch ab.“
„NCIS, machen Sie auf. ... Geht zur Seite.“ Mit diesen Worten bricht Gibbs die Tür zum Appartement des Verdächtigen auf. Bei der Sicherung der Räume müssen die Agenten jedoch feststellen, dass die Wohnung verlassen ist. McGee zieht sein Handy aus der Tasche und wählt eine Nummer: „Abby, finde heraus, für welche Gerichtsverfahren Johnson in letzter Zeit eingesetzt war. Wir müssen vor allem wissen, welche Angeklagten freigesprochen wurden. Und Gibbs muss die Ermittlungen geführt haben.“ In diesem Moment ruft Gideon dazwischen: „Das letzte Opfer hat versucht, seine Eltern umzubringen. Gebot Nummer vier. Das dritte spricht davon, den Sabbat zu heiligen. Die Straftat muss irgendetwas damit zu tun haben.“ „Ist sofort erledigt“, ertönt die Stimme der Forensikerin aus dem Hörer. Keine zwei Minuten später ertönt der Klingelton von Morgans Telefon: „Garcia, habt ihr was gefunden? ... Danke, du bist ein Engel.“ Er wendet sich an die umstehenden Agenten: „Sie haben einen Fall von Menschenhandel und Zuhälterei gefunden. Der Verdächtige ist Petty Officer und seine Adresse ist 1349 Stanton Avenue. Johnson wird ihn beobachten.“
Gibbs und Hotch schleichen mit erhobenen Waffen durch die Bäume in einem Garten eines heruntergekommenen Hauses. Durch Handzeichen verständigen sie sich über die Gestalt mit einem Fernglas in der Hand, die wenige Meter vor ihnen hockt. „NCIS. Nehmen Sie ihre Hände hoch. Sie sind verhaftet, Mr. Johnson“, ruft Gibbs, doch als er ihn festnehmen will, hebt dieser einen Revolver nach oben. „Lassen Sie ihre Waffe fallen“, versucht nun Hotch den Mann zu beschwichtigen. „Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus“, antwortet dieser wie in Trance, hält sich die Pistole an die Schläfe und drückt ab. Der Knall dröhnt durch die Luft, und der leblose Körper sackt zu Boden.
Zurück im NCIS-Headquarter versammeln sich die Agenten der beiden Behörden im Sqad Room. „Der Fall ist abgeschlossen“, erklärt Hotch und reicht dem Chefermittler die Hand. „Damit ist unsere Arbeit getan, und wir fliegen zurück nach Quantico, Agent Gibbs.“ „Vielen Dank für Ihre Hilfe“, antwortet dieser bemüht freundlich. Nach einigen Minuten hat sich das FBI-Team verabschiedet und das Büro verlassen. Mit einem lauten Stöhnen wendet sich Jethro an seine Agents: „Da arbeite ich lieber eine ganze Woche mit Fornell zusammen als nur einen Tag mit diesen Klugscheißern.“ Tony, Ziva und Tim nicken grinsend und setzen sich schließlich seufzend an ihre Abschlussberichte...