Kapitel 3
Julie saß im Warteraum eines Psychologen. Nein, nicht irgendeines Psychologen, sondern ihres Psychologen. Was hatte sie hier überhaupt zu suchen? Es fehlte ihr doch nichts. Es ging ihr einfach super, besser als jemals zuvor. Das Schlimme daran war nicht, dass es alles nicht stimmte, sondern eher, dass es nicht stimmte und Julie es trotzdem schön langsam zu glauben begann. Sie redete es sich richtig ein, wollte, nein konnte einfach nicht glauben, dass ihre “Tagträume” real waren.
Julie sah auf die weiße Wand gegenüber und verfiel wieder ihren ruhelosen Gedanken. “Erster Besuch?”, hörte sie plötzlich eine Stimme fragen. Sie zuckte zusammen, im ersten Moment hatte die Stimme nach der Stimme des Mörders aus ihren Träumen geklungen. Ihr Herz wollte nicht aufhören immer schneller und schneller zu schlagen und sie spürte wie ihr Gesicht vollkommen bleich wurde. Langsam richtete sie ihren Kopf auf und blickte in das Gesicht eines jungen Mannes, der nur einige Jahre älter war, als sie. “Ähm, ja..”, begann sie leise. “Sieht man mir das etwa an?”, sie lächelte nun und spürte gleichzeitig wie der Schock langsam nachließ, wie ihr Blut aufhörte vor Schreck in ihrem Körper zu kochen. “Ja”, meinte der junge Mann ehrlich und leicht lächelnd. Er streckte Julie seine Hand entgegen. “Ich bin Ryan.”, stellte sich dieser vor. “Julie.”, entgegnete sie. “Und dein wievielter Besuch ist das?“, fragte Julie direkt und schüttelte seine Hand. “Ach, ich habe aufgehört zu zählen. Ich bin hier sozusagen Stammkunde”, er lächelte. “Und warum?”, fragte Julie interessiert und irgendwie brachte sie seine Offenheit, seine entspannten Züge, dazu sich wieder vollkommen zu beruhigen. “Hast du etwa auch Tagträume von einem Massenmörder?”, entkam es ihrem Mund. Sie war erschrocken über ihre plötzliche Offenheit und doch war sie erleichtert, endlich mit jemandem darüber sprechen zu können, der sie, wie sie glaubte, verstehen würde. Oder sie wenigstens nicht für verrückt halten würde. Er zögerte einige Augenblicke, dann begann er langsam zu sprechen, doch sein Ton hatte sich verändert, er war nicht mehr so locker, so ruhig, sondern verwirrt, Julie meinte fast ein erstickte, verdrängte Angst heraus zu hören. “…Nunja…ja….schon….so etwas ähnliches…”, sein Blick wurde plötzlich verschleiert, er war in Gedanken und es schien so, als würde er nicht so schnell wieder aus seiner Gedankenwelt auftauchen, doch der Schein trog. Wenige Augenblicke später schüttelte er seinen Kopf. “Was ist?”, wollte Julie wissen. “Ach nichts. Vergiss es einfach”, sagte Ryan leise. Julie merkte, dass sie heute nichts mehr über ihn erfahren würde also nickte sie. “Warum gehen wir nicht einfach? Ich habe keine Lust jetzt eine Stunde in diesem stickigen Raum zu sitzen und irgendwem von meinem Problemen zu erzählen, der sowieso nicht annähernd in der Lage ist diese zu verstehen…”, Ryan sah ihr mit festem Blick in die Augen. Julie konnte seine Worte nachvollziehen, ihr ging es genauso. Sie glaubte auch nicht, dass der Psychologe auch nur im Entferntesten verstehen würde, was sie gerade durchmachte. Wie sie litt. Welche Angst sie hatte, obwohl sie nicht einmal wusste wovor sie genau Angst hatte. Sie hatte einfach Angst. Schreckliche Angst, alles erstickende, einnehmende Angst. Doch für heute wollte sie das vergessen, genauso wie Ryan. “Wieso eigentlich nicht?”, meinte sie, grinsend. “Lass und gehen.” Er lächelte. Sie warf noch einen Blick durch den Warteraum und ging dann nach draußen.
Einige Zeit später schlenderten die Beiden eine Straße entlang, die ziemlich verlassen war. Kein Auto war zu sehen, kein Mensch lief hektisch durch die Gegend. “Und weißt du was?”, fragte sie ihn. “Als wir die Rolltreppe hinauf gegangen sind haben wir anfangs nicht einmal bemerkt, dass sie nach unten fährt und nicht nach oben, wir waren so in unser Gespräch vertieft. Meine Freundin und ich sind dann erst etwas später drauf gekommen, als einige Leute zu uns gesehen haben. Du hast ja keine Ahnung wie peinlich ihr das war.”, sie lachte und auch er erlaubte sich ein leichtes Lächeln, da er nun seine errichtete Mauer um seine Gefühle wieder zusammen gesetzt hatte. Es war für beide momentan leichter, ihre Gefühle einfach zu verdrängen, oder teilweise sogar auszuschalten, als darüber zu sprechen. Es stellte sich dabei nur die Frage wie lange es so weiter gehen würde…
Plötzlich wurde Julie schwindelig, sie schloss die Augen und sackte zu Boden. Er konnte sie gerade noch auffangen, bevor sie auf dem Boden aufschlug. Beunruhigt blickte Ryan sie an...
Sie wusste, dass er knapp hinter ihr war, er würde sie einholen. Sie konnte nur fliehen, wollte ihm nicht begegnen, hätte keine Chance gegen ihn. Sie warf noch einmal einen Blick nach hinten, doch dann sah sie wieder nach vorne. Sie wusste, dass ihre einzige Chance war schnell zu fliehen, sie konnte ihn nicht besiegen. Sie würde es nicht schaffen. War noch nicht stark genug dafür und würde wahrscheinlich auch nie stark genug sein.
Ryan beobachtete wie Julie’s Gesicht sich vor Angst verzerrte, er sah eine Bank in der Nähe der Straße und trug sie dorthin. Julie’s Gesichtszüge wurden immer mehr von angst und Verzweiflung geprägt. Ryan versuchte sie aufzuwecken, doch sie rührte sich nicht.
Sie spürte wie er immer näher kam. Spürte seine Schritte die in immer kürzeren Abständen den Boden berührten und hörte doch nichts. Er war wie ein Gespenst, ein Geist, ein Schatten, der so unwirklich schien und doch so verzweifelt real war. Der sie, früher, oder später das Leben kosten würde. Er war hinter ihr, hatte sie letztendlich doch eingeholt. Sie spürte seinen Atem im Nacken. Sie blieb stehen, es hatte keinen Sinn mehr, sie drehte sich langsam um und sah ihn an. “Endlich hast du es begriffen. Die Flucht ist zwecklos. Die Flucht hat noch keiner etwas geholfen, alle haben sich schlussendlich ihrem Schicksal gebeugt”, er lächelte, doch sein Lächeln war kalt. Seine Augen sahen sie mit einem Blick an, der zwar vollkommen wahnsinnig wirkte, doch da war noch etwas anderes, etwas unter der Oberfläche, etwas, das ganz und gar nicht wahnsinnig war. “Schicksal?!”, sie sah ihm direkt in die Augen, ihr Blick war furchtlos, denn sie wusste sie konnte nichts mehr verlieren, er hatte ihr bereits alles genommen. "Du wagst es von Schicksal zu sprechen? Wagst es über die vielen anderen zu sprechen, denen zu schon das Leben genommen hast?" Und bald, ja, bald würde er ihr auch das anscheinend letzte nehmen, was sie besaß, ihr Leben, ihr Blut, doch sie würde ihn nicht anflehen, würde nicht im Angesicht des Todes schwach werden und ihn darum bitten sie zu verschonen. Nein, sie würde ihm trotzig ins Gesicht sehen, ihn bis zu ihrem letzten Atemzug mit ihrem lebendigen, ruhelosen Blick durchbohren. Sie sah den Dolch, den er zog, sah, wie er sich ihrem Bauch immer mehr näherte und doch rührte sie sich nicht. Sie sah ihm fest in die Augen, furchtlos, aber voller Hass. Hass der auch durch ihren möglichen Tod nicht erlöschen würde. “Na, was hast du? Bist du plötzlich schwach geworden?”, fragte sie in einem frechen Tonfall, worauf seine Gesicht um noch eine Spur bleicher wurde. "Du Feigling", zischte sie voller Verachtung. Der Dolch ruhte noch immer in seiner Hand, die ihn fest umschloss. Doch die Hand hatte aufgehört sich zu bewegen. Er zögerte, hatte noch nie gezögert und konnte doch nicht anders. Einen kurzer Moment kehrte Ruhe ein, doch er hatte seine Zweifel schnell beseitigt und stieß den Dolch mitten in ihren Magen. Sie sank zu Boden, nahm jedoch ihre Kraft zusammen, zog den Dolch aus ihrem Körper und warf ihn auf ihn. Doch er war schon in der Dunkelheit verschwunden. Sie lag nun am Boden, spürte wie das Blut langsam aus ihrer Wunde floss und wie trotzdem die Wunde langsam verheilte. Die zeit war noch nicht gekommen. Es war noch zu früh für sie. Der Ruf des Blutes war noch zu schwach...
Julie schreckte zusammen, sie fuhr von der Bank hoch, atmete schnell. Sie sah auf ihren Bauch und in den ersten Sekunden sah sie dort die Wunde, die noch vor kurzem dort gewesen war, doch dann verlosch sie langsam vor ihren Augen und ihr Oberteil setzte sich ebenfalls wieder zusammen. Von all dem schien Ryan, der sie noch immer besorgt musterte nichts mitbekommen zu haben. Julie spürte wie ihr Tränen in die Augen traten. Es durfte so nicht weiter gehen. Ryan machte den Mund auf, um etwas zusagen, fand jedoch nicht die richtigen Worte und schloss so seinen Mund wieder, er ging einfach einen Schritt auf sie zu und umarmte sie. Und obwohl sie ihn gerade erst kennen gelernt hatte, fühlte sie sich sicherer. Eine einzige Träne floss ihre Wange hinunter, dann versiegten ihre Tränen, ihre Gesichtszüge versteinerten sich und sie sah gerade aus, sie war gar nicht wirklich in dieser verlassenen Gegend und auch nicht in ihren Gedanken, sie war irgendwo weit weg. Irgendwo, wo ihr niemand mehr etwas anhaben konnte. Und sie begriff plötzlich etwas: Sie würde nur überleben können, wenn sie diesen Träumen auswich. Sie durfte nicht daran denken, musste es ausblenden. Und doch beschäftigte sie der Verlauf des Traumes. Er unterschied sich von den anderen. Er hatte nicht mit einem Tod geendet, aber, zu Julie’s Bedauern war er um noch eine Spur realer gewesen…
„Verdammt“, stieß Carol aus, schlug mit der geschlossenen Faust heftig auf den modrigen Waldboden. Die Wunde war zwar verheilt, gestorben war sie nicht, doch er war ihr entkommen, würde weitere Opfer finden, mächtiger werden. Sie müsste ihm bald Einhalt gebieten. Wie aber? Sie war zu schwach, das Erbe zu mächtig, als dass sie damit umgehen könnte.
Doch was hatte sie vorhin gespürt, gehört? Jemand war ihr gefolgt - oder ihm? - sie konnte es ganz deutlich fühlen, ja, da war jemand, hatte sie beobachtet...
Noch Jemand?, fragte sie sich. Der Gedanke, dass es jemanden gab, der ihre Bestimmung mit ihr teilte, war nicht absurd, doch nie hätte sie daran einen Gedanken verschwendet – wieso eigentlich?
Was immer es zu bedeuten hatte, wer immer sie beobachtet hatte, wenn nicht physisch, dann geistig, sie würde es herausfinden, den Jemand finden...
„Danke Ryan“, sie wippte unruhig auf ihren Füßen, stützte sich dann an den Türrahmen. „Kein Problem“, gab dieser zurück, mit einem Ton, der für Julie ein wenig nach Casanova klang. Sie schmunzelte, hielt jedoch inne, bevor sie den Schlüssel, mit dem sie die ganze Zeit unruhig in den Finger gespielt hatte, mit einer nervösen Geste in ihrer Manteltasche verschwinden ließ. „Möchtest du noch mit rein? Auf einen Kaffee oder so?“
Ihre Stimme klang unsicher. Es war nicht der Traum, nein, zwar war er der Grund, wieso sie Ryan gebeten hatte, sie nach Hause zu begleiten, doch letztendlich hatte sie ihn fast vergessen, Ryan, ja, es war mehr Ryan, der sie in diesen Zustand versetzte.
„Tut mir Leid, Julie. Ich habe noch einen Termin. Man rechnet ja nicht damit dass man beim Psychiater jemanden interessanten trifft.“
Sein Lächeln wirkte warm und vertraut. Beide schwiegen, schauten sich an, rührten sich jedoch nicht. Ewig schien Julie dieser Moment, erst beendet, als ihr Schlüssel, sie musste ihn in ihrer Gedankenverlorenheit wieder gegriffen haben, zu Boden fiel.
„Ich geh dann mal“, gab Ryan noch von sich. „Wir sehen uns wieder“, als sie sich wieder aufrichtete, den Schlüssel aufgehoben hatte, war er verschwunden.
Unbeschwert fröhlich zuckte sie mit den Schultern und trat in die Wohnung, zielstrebig ins Wohnzimmer, wo sie Sophie anzutreffen hoffte.
„Sophie“, sprach sie laut, dass es gar nicht Sophie war, die da saß, hatte sie nicht bemerkt. Noch nicht. Erschrocken zuckte sie zurück. „Wer sind sie?“, ihre Stimme, die nur kurz zuvor noch laut und klar gewesen war, wirkte unsicher und hilflos – oft genug hatte sie von Einbrüchen gelesen.
Die Frau rührte sich nicht, saß ungestört im Sessel, den Kopf gesenkt. Ihr Haar war verklebt, hing ihr ins blasse, fast bleiche Gesicht.
„Hallo?“, gespielt selbstsicher trat sie auf die Frau zu, sprach sie erneut an – keine Reaktion.
Julie... Nicht näher, bleib wo du bist Julie
Mahnend hallten ihre Gedanken in ihrem Kopf wieder. Doch wider diesen, gar wider dem, was Julie selbst zu wollen glaubte, schritt sie näher auf die Frau zu, die still – leblos? – da saß. Vorsichtig streckte sie die Hand aus – schlief die Frau? Sanft stieß sie gegen ihre Schulter.
Panisch kreischend, kroch sie zur Wand. Sophie, von einem schrillen schrei geweckt, wachte auf, reckte sich kurz, bevor ihr Blick auf ihre verstörte Freundin fiel. Ruckartig sprang sie aus dem Sessel, Julie entgegen, diese jedoch schlug die Arme über den Kopf, „Nein...“, leise, zerbrechlich, „Nein...“, hilflos, verloren, „Nein...“, schwarz.