AW: [Supernatural] One Life, One Heart, One Soul...]
Doch, ich denke, Dean hätte zu gern selbst mehr Familie gehabt und wenn man betrachtet, wieviel Respekt er gegenüber Bobby oder Ellen beweist, denke ich, sein Verhalten ist durchaus einleuchtend.
* * *
Melissa strich sich mit der schmalen, altersfleckigen Hand eine schlohweiße Haarsträhne hinter das Ohr und rührte nachdenklich ihren schwach nach Minze duftenden Tee um. Sie lauschte dem Klingeln des Löffels am feinen Porzellan der Teeschale und begann dann zu sprechen.
"Als Cassandra mir erzählte, dass du einen Mann liebst, der einen Pakt mit dem Crossroad-Demon geschlossen hat, um seinen Bruder zurück zu holen, habe ich sofort alle meine Quellen angezapft – und es sind viele geworden im Laufe der Jahre und Jahrzehnte." Sie sammelte sich einen Moment und fuhr dann fort.
"Es ist Abalam. Es muss Abalam sein. Er ist ein Händler und Sammler und es geht schon lange das Gerücht, dass er den Handel mit den Deals an sich gebracht hat."
Dean und Blair schauten sich alarmiert an. Wenn das wahr wäre, wenn Melissa tatsächlich den richtigen Namen in Erfahrung gebracht hätte? Damit wüssten sie zwar noch nicht, wie man ihn bezwingen konnte, aber sie hätten einen Ansatzpunkt!
"Abalam gefällt sich darin, sich nur durch besonders widerliche Rituale beschwören zu lassen, also Ekelgeschichten mit Eingeweiden, Blut, Knochen und sonstigem Unrat", meinte Melissa ungnädig. "Ich werde mit euch zurück fahren, um mit Cassandra gemeinsam daran zu arbeiten." Ihre Stimme ließ keinen Raum für Widerspruch. Sie nahm noch einen Schluck Tee aus der zierlichen Tasse und schaute Beifall heischend von einem zum anderen.
Dean zuckte die Schultern und nickte, Widerworte waren hier sinnlos, obwohl ihm nicht ganz wohl war bei der Vorstellung der alten Dame in seinem alten Panzer. Blair dagegen fand die Idee genial.
"Mum wird sich so freuen. Wie lange schon habt ihr euch nicht gesehen, Nana?"
"Viel zu lange – wenn man bedenkt, dass jeder Tag mein letzter sein könnte", grummelte die weiße Hexe.
Blair druckste ein wenig rum und fragte dann: "Nana, hast du eigentlich von Großmutter etwas gehört? Mum spricht nicht über sie – aber ich kann mir nicht helfen, ich bin neugierig, immerhin ist sie meine Großmutter."
Die wässrigen alten Augen blickten voller Mitgefühl auf die junge Frau. "Kleines, das letzte, was ich von meiner Tochter gehört habe, war, dass sie Cassandra und deren Lebenswandel verflucht hat und sich seitdem die Knie wundbetet. Du hast nichts verpasst, indem du sie nie kennen gelernt hast, mein Schatz."
Blairs Finger spielten fahrig miteinander in ihrem Schoß, bis Dean seine große Hand darauf legte. "Blair, du hast eine tolle Mutter und eine liebe Urgroßmutter. Wozu einer Großmutter nachweinen, die dich nicht zu schätzen weiß?" Blair atmete bei Deans Worten einmal heftig durch und lächelte ihn traurig an.
"Es tut mir leid, ich hatte vergessen… " Sie wollte noch sagen, "dass du nichts von alledem hast", aber Deans Mobiltelefon schrammelte sein hartes 'Smoke On The Water' dazwischen und sie war ganz froh, dass sie es nicht aussprechen musste.
"Hi Sammy! Was gibt es? Ist irgendwas passiert? Sorry, ich hab jetzt tatsächlich gedacht, du hättest Ruby gesagt… Wie?… Ihr habt sie tatsächlich rein gelassen? Wie konnte Cass… klar, und du fällst wieder auf sie rein? Sie sagt 'spring' und du fragst nur 'wie hoch'! Sie hat was? Sam, das ist nichts Neues… Nein, Tatsache, das wussten wir schon von Melissa, Blairs Urgroßmutter… Okay, du kannst ja ruhig nach ihrer Pfeife tanzen, aber nur bis wir zurück sind, dann schmeiße ich sie raus!"
Dean schnaubte böse, als er das Handy zuklappte.
"Was ist mit Ruby?" Blair hielt sich nicht mit langen Vorreden auf.
Dean schüttelte frustriert den Kopf. "Kaum bin ich nicht da, lässt sich dieser Idiot von Ruby erneut weismachen, dass sie daran interessiert ist, uns zu helfen und einen Weg wüsste!"
"Und was, wenn es wirklich so wäre", gab Melissa zu bedenken.
"Ich halte das für nicht unwahrscheinlich. Ich hab dem Gespräch entnommen, dass sie auch den Namen Abalam ins Gespräch gebracht hat. Möglicherweise ist sie in ihren Nachforschungen bereits weiter gekommen als ich, auch wenn ich es nicht gern zugebe." Melissa lachte unfroh.
"Was bedeutet, ich überlege mir besser noch mal, ob ich sie rausschmeiße, ja?" Dean zog mit einem schiefen Grinsen eine Braue hoch. Vielleicht konnte er sich erst retten lassen und sie DANN rausschmeißen?
"Das wäre schlau, junger Winchester", kicherte Melissa amüsiert. Der Junge gefiel ihr, hatte Herz, Mut und Witz, die Art Mann, die ihr selbst in ihrem Leben einige Male den früher sehr hübschen Kopf verdreht hatte und genau das, was sie sich für Blair als Partner vorstellte.
"Abalam ist mächtig, er befehligt hunderte von Dämonen und wenn diese Dämonin einen Weg kennt, ihn zu überlisten oder zu töten, sollten wir sie zumindest anhören. Ich denke, ich packe meine Tasche und dann fahren wir." Sie stand auf ging zur Spüle, um die Tasse hinein zu stellen. "Blair, mein Schatz, würdest du kurz hier ein wenig für Ordnung sorgen? Dean, kommst du bitte mit mir, die Glühbirne wartet."
"Ja, Ma'am." Er hätte beinahe respektvoll gedienert.
"Junge, sag Nana zu mir", hörte Blair noch ihre Urgroßmutter sagen, bevor sie mit Dean im Schlepptau den Raum verließ.
"Nana, darf ich Sie etwas fragen?" Dean wirkte fast schüchtern.
Die kleine alte Frau hatte Dean bei der schweren Aufgabe beaufsichtigt, eine neue Glühlampe in die Flurbeleuchtung einzuschrauben und ihn dann gebeten, ihr beim Packen behilflich zu sein, indem er die alte verstaubte Reisetasche vom Schrank herunter bugsierte.
"Sicher, Junge. Frag nur." Sie fuhr fort, die Kleidung, die sie mitzunehmen gedachte, fein säuberlich in die Tasche zu stapeln.
"Gibt es sowas wie Seelenverwandtschaft?" Er sprach es schnell aus, bevor er es sich anders überlegen konnte. Es war ihm ein bisschen peinlich, aber er wusste niemand Besseren, den er hätte fragen können und diese Frage brannte ihm seit ein paar Tagen ein Loch in die eh' schon angefressene Seele.
Nana drehte sich zu ihm um, ließ sich auf das Bett fallen und bedeutete ihm mit einem Wink, sich neben sie zu setzen.
"Dean, sicher gibt es die. Hast du das nicht selbst erlebt?" Der Blick, mit dem sie ihn bedachte, wirkte ein wenig verwundert. "Du und Blair – hast du gedacht, sowas passiert alle Tage?"
"Wollen Sie damit sagen, dass sie und ich tatsächlich solche Seelenverwandte sein könnten?" Dean war regelrecht erschüttert. Das war immer eine der Sachen gewesen, die er als Ammenmärchen und Chick-Flick-Quatsch abgetan hatte.
"Nein. Das will ich nicht. Ihr könntet nicht – ihr seid eindeutig Seelenverwandte. Ich habe es gefühlt, als ich euch beide berührte bei der Begrüßung. Ihr seid Jin und Jang, zwei Hälften."
Sie ergriff seine Hände und schaute ihn beinahe liebevoll an. "Mein Junge, du musst keine Angst haben. Ich glaube nicht, dass du sterben wirst. Normalerweise fühle ich, wenn ich jemanden berühre, ob er oder sie dem Tod nahe ist. Bei dir fühle ich es nicht, im Gegenteil, ich fühle große Lebenskraft und Energie. Ich denke, das bedeutet, dass wir der Lösung nahe sind…"
Er hätte sie umarmen mögen, sie hatte seiner Hoffnung Nahrung gegeben und ihm schien der Tag plötzlich freundlicher und die Sonne heller. Ach, was sollte es. Er legte spontan die Arme um die alte Dame und drückte sie sanft an sich.
Melissa lächelte versonnen. Wie sie diese Umarmung vor 70 oder 80 Jahren genossen hätte!
"Nun lass uns fahren und schauen, was diese Ruby-Hexe uns anzubieten hat."
Er ging schon vor zum Wagen, schaute sich um, wo Blair geblieben war, da er sie im Haus nicht gesehen hatte. Er hörte ihre Stimme und folgte ihr, bis er sie im Holzschuppen fand, wo sich die schwarze Katze, die er vorhin vor dem Fenster gesehen hatte, auf den Rücken geworfen hatte, um sich von der jungen Frau den Bauch kraulen zu lassen.
"Sie schnurrt fast so laut wie du", grinste Dean.
Blair schaute ihn an, stand auf und kam auf ihn zu. Direkt vor ihm blieb sie stehen und musterte sein Gesicht, sah in die klaren grünen Augen.
"Sie hat es dir gesagt, oder?" Sie legte die Hand auf seine Brust, fühlte Hoffnung, neue Zuversicht und den starken Winchester-Willen. Sie fühlte ein neues warmes Glimmen in ihm, das die Worte ihrer Nana ausgelöst hatten.
"Wie viel weiß Nana? Irrt sie sich oft?" Er hatte beinahe Angst vor der Antwort, Angst, dass sie seine Hoffnung nicht teilen würde.
"Sie hat bisher, soweit ich weiß, nie geirrt. Ich bin nicht sicher, was genau sie weiß, aber sie scheint über dein Schicksal bestens informiert zu sein und irgendwas hält sie diesbezüglich noch zurück, da bin ich mir sicher. Ich zumindest glaube an sie."
Deans Blick schweifte nachdenklich über den wildwachsenden Garten, der eingesäumt wurde von säuberlich gejäteten Kräuter-Hochbeeten und verlor sich im grünen Dickicht des Waldsaumes, während er auf der Lippe kaute, wie immer, wenn er grübelte.
"Okay. Dann wirst du mich möglicherweise doch nicht so schnell los, wie du dachtest", sagte er mit weicher Stimme, als er sich durchgerungen hatte, die Hoffnung zuzulassen, und schloss Blair in die Arme. "Habe ich schon erwähnt, dass ich Hexen liebe?"
Blair lehnte sich ein wenig in seinen Armen zurück und grinste ihn frech an. "Wie – auch Ruby?"
"Freches Weib", brummte er und verschloss ihr den lachenden Mund mit einem leidenschaftlichen Kuss. Sie schlang die Arme um seinen Hals, harkte mit den Fingern durch die kurzen Haare an seinem Hinterkopf und presste ihren ganzen Körper an ihn, eine Einladung, der er kaum widerstehen konnte – und wollte. Er vertiefte den Kuss, knabberte verspielt an ihrer Unterlippe und genoss ihren süßen Geschmack, während seine Hände auf ihren Po wanderten und sie noch fester an sich drückte, sie seine Erregung spüren ließ und stöhnte leise an ihrem Mund. War es wirklich erst zwei Tage her? Es schienen Wochen zu sein und sein Körper war ausgehungert nach ihrem, nach ihrer Hitze und ihrer Zärtlichkeit.
Sie verschmolzen förmlich zu einer Person, eine Silhouette im Schatten des Schuppens…
"Kinder, ich störe nur ungern, aber wir sollten fahren…" erklang die amüsierte Stimme der alten Dame.
* * *
"Ruby, das kannst du nicht ernst meinen! Das macht Dean niemals mit!" Sam schrie die Blondine entnervt an, die pikiert die schmalen Augenbrauen hoch zog.
"Und? Wer hat gesagt, dass er davon wissen muss? Er darf sowieso keinen Finger rühren, um gegen Abalam vorzugehen, hast du das vergessen?" Ihre Stimme klang gelangweilt. Dieses ständige Bruder-Gehabe der beiden Winchesters ging ihr mittlerweile ziemlich auf die Nerven.
"Also, wir wissen, wer den Kontrakt hält, wir wissen, was für seine Beschwörung notwendig ist. Zudem brauchen wir drei starke Hexen für das Ritual. Ich bin bereit, selber mitzumachen. Cassandra, bist du dabei?" Sie sah herausfordernd und ein wenig herablassend zu Cass, so als ob sie erwarte, dass die aus Angst nicht mitmachen würde.
"…worauf du wetten kannst, Blondie", knurrte Blairs Mutter gereizt in einem Ton, der John McLane Ehre gemacht hätte. Yippiehey-ho Schweinebacke!
"Ich hoffe, du bist besser, als es den Anschein hat", lästerte Ruby und zog dann grübelnd die Stirn kraus. "Mir fällt keine weitere Hexe ein, die wir dazu 'bitten' könnten…"
Sam wurde nervös. Würde es daran scheitern, dass sie keinen Zirkel zusammen bekamen?
Aber Cass hatte dazu etwas zu sagen. "Ich kenne eine starke Hexe, besser als du und ich zusammen, eine alte und mächtige Weiße Hexe…"
"Von wem sprichst … ohhh… du meinst die Alte, Melissa Sinclair, richtig? Okay, sie ist früher stark gewesen – aber jetzt ist sie alt und schwach…" Ruby war nicht überzeugt.
"Schwach? Selbst mit über 100 Jahren ist sie stärker, als du es je gewesen bist." Stolz klang aus Cassandras Stimme, als sie über ihre Urgroßmutter sprach.
"Also, wir haben die Macht von Dreien. Sam, du besorgst uns die notwendigen Relikte und Zutaten für die Beschwörung?" wandte sich Ruby an Sam.
Er zögerte. Dean würde niemals einverstanden sein – aber hatte er eine Wahl, wenn er seinen Bruder retten wollte?
"Geht klar. Ich hoffe nur, ihr müsst mich nicht aus dem Knast befreien kommen." Kein schöner Gedanke, aber nicht unwahrscheinlich. "Und wann steigt die Party?" Er hätte das ganze lieber heute als morgen durchgezogen, schon, weil Dean jetzt nicht da war.
"Ich befürchte, die Beschwörung muss innerhalb der letzten Stunde vor Deans Rendezvous mit den Höllenhunden durchgeführt werden, aber ich bin noch nicht sicher. Jedenfalls dürft ihr euch schon mal den Kopf zerbrechen, wie ihr ihn vom Ort des Rituals fernhalten wollt. Er kann alles machen – aber er darf sich nicht einmischen, sonst ist er tot und möglicherweise auch Sam." Ruby sah beschwörend zum jüngeren der Brüder.
Er starrte sie an. "Warum tust du das alles? Was hast du davon?"
Sie starrte schweigend zurück, stand auf und verließ steifbeinig den Raum und das Haus, verschwand im Dunkel der einbrechenden Dämmerung.
Zwei Stunden später rollte der Impala die Einfahrt hinauf und das Bullern des Motors erstarb. Einen Moment war es stockfinster, dann ging das Licht an und Cass betrat die Veranda. Ein freudiges Lächeln erhellte ihr Gesicht, als Dean die Fahrertür öffnete und die Innenbeleuchtung ihr die Großmutter zeigte. Hinter ihr klappte die Tür und Sam kam aus dem Haus und ging mit langen Schritten seinem Bruder entgegen.
"Hey, Alter, schön, dass ihr zurück seid. Alles okay?" Er ließ die flache Hand grüßend auf die Schulter des Älteren fallen und schaute ihn forschend an, fragte auf typische Winchester-Art wortlos, ob zwischen Blair und ihm wieder alles in Ordnung war. Die Antwort folgte derselben Routine, Dean nickte und grinste den Jüngeren schief an.
"Hallo, Sam."
Blair kam um den Wagen herum und half ihrer Urgroßmutter beim Aussteigen. Die kleine, alte Dame kniff die kurzsichtigen Augen zusammen, um im Halbdunkel der Verandabeleuchtung Sams Gesicht weit über sich auszumachen.
"Junger Mann, könntest du dich mal ein bisschen kleiner machen? Ich kann dich da oben nicht erkennen." Ihre Stimme war eine Mischung aus Bitte und Befehl und Sam kam garnicht auf die Idee, ihrer Aufforderung nicht nachzukommen. Er machte sich klein und lächelte die Weiße Hexe fast schüchtern an.
"Soso… du bist also Sam. Ich hoffe, du bist den ganzen Ärger wert, den dein Bruder deinetwegen hat."
"Ähm… ja… ich…" Sam fühlte sich getadelt… zu Unrecht, immerhin hatte er Dean nicht darum gebeten, für ihn seine Seele zu verkaufen und er sah verwirrt zu seinem 'großen' Bruder. Der zog die Schultern hoch und die Stirn kraus – er hatte keine Ahnung, was Nana meinte, aber innerlich freute er sich diebisch. Sie mochte ihn. Hier lief es anders ab, als vor einiger Zeit bei Missouri, die immer ihn auf dem Kieker hatte und deren Liebling eindeutig Sam war. Er verkniff sich versöhnlich eine dumme Bemerkung und half Melissa hinauf zur Veranda, wo sie von ihrer Enkelin umarmt und dann ins Haus begleitet wurde. Nach einem neugierigen Blick zurück zu Blair und Dean folgte Sam ihnen, ließ ihnen noch ein paar Minuten für sich allein, ohne Zuschauer… wie er glaubte.
Auf der anderen Straßenseite, unsichtbar im Dunkel der Nacht in ihrer schwarzen Lederkleidung stand eine schmale Blondine und hatte die Ankunft der alten Hexe beobachtet. Sie schaute mit unbewegtem Gesicht auf das Paar, das in enger Umarmung am Wagen lehnte und alles um sich herum vergessen hatte, starrte auf den breiten Rücken des Mannes, den sie vor den Fängen der Höllenhunde zu retten versuchte.
Sie konnte niemandem erzählen, warum sie das alles tat. Es würde ihr niemand glauben…
"Wo ist Sarah?" Dean sah sich suchend um, als er und Blair wenig später das Haus betraten.
"Sie hat heute Mittag angerufen, dass sie es nicht schafft. Vielleicht in ein paar Tagen." Sam war sichtlich enttäuscht, das war nicht zu überhören und während Blair und Dean sich zu ihrer Mutter und der alten Lady gesellten, blieb er lieber für sich, suchte wieder im Internet nach dem Stein der Weisen.
"Dean, Blair, kommt mal her und schaut euch das an." Eine Stunde später rief Sam aufgeregt aus der Küche nach den Beiden.
Als sein Bruder und die junge Frau hinter ihm standen und ihm über die Schulter sahen, zoomte er die Seite größer, auf der er sich gerade befand und machte eine zum Lesen auffordernde Handbewegung.
Zu sehen waren zwei Bilder, vor Jahrhunderten übliche Zeichnungen von einer Gerichtsverhandlung, ein Gerichtssaal, Ankläger, Angeklagte, Zuschauer. Die Zeichnungen waren detailliert und fein ausgearbeitet. Der Zeichner hatte großartige Arbeit geleistet und so hatte seine Arbeit ihren Weg in die örtliche Zeitung gefunden. Die Angeklagte… sie sah aus … Himmel! Sie sah aus wie Blair, allerdings mit langem, zu einem Zopf geflochtenen Haar und vor der Zeit gealtertem Gesicht!
Hinter der Bank der Verteidigung die Familie, ein junger Mann mit einem klaren, gut geschnittenen Gesicht und langem Haar, wie es Männer damals trugen, und mit einem vielleicht zweijährigen Kind auf dem Arm.
Dean traute seinen Augen kaum. Dieser Mann hätte er sein können – nach fünf Jahren ohne Haarschnitt!
Sein Blick traf Sams, der ebenso verblüfft war und er hörte, wie Blair scharf die Luft einzog.
Die Unterschrift unter diesem Bild lautete
"Die Angeklagte Anne Abbott. Hinter ihr der Ehemann Joseph mit der Tochter Abigail."
"Wie…?" Ihm fehlten die Worte. Sam zuckte mit den Schultern. Er hatte keine Ahnung, was das bedeuten mochte.
Das zweite Bild zeigte die Zuschauer und den drei jungen Leuten fiel auf Anhieb eine Frau schräg hinter Joseph Abbott auf, deren Blick ihm Löcher in die Haut hätte brennen müssen. Der Zeichner hatte einen wie Kohlen glühenden, sehnsüchtigen Blick aufs Papier gebracht, vermutlich ohne sich dabei viel zu denken.
Das Gesicht der jungen Frau war ihnen bekannt. Blondes, hochgestecktes Haar, dunkle Augen, zierliche Figur und ein etwas überheblicher Gesichtsausdruck – Ruby, vielmehr Rubinia. Die Bildunterschrift lautete
"Die Anklägerin Rubinia Baxter."
Sie schwiegen, versuchten jeder auf seine eigene Weise zu verarbeiten, was sie sahen.
"Rubinia wollte Joseph. Aber er wollte sie nicht, liebte seine Frau Anne. Also schaffte sie die Rivalin aus dem Weg, indem sie diese als Hexe denunzierte, in der Hoffnung, Joseph würde sich nach Annes Tod ihr zuwenden." Blair dachte laut nach und sah die Brüder um Zustimmung heischend an.
"Hat aber anscheinend keinen Erfolg gehabt mit ihrer Intrige." Sam las einen Satz aus dem beigestellten Text vor, der ihm besonders ins Auge fiel.
"Der junge Witwer Joseph Abbott ließ seine kleine Tochter in der Obhut der gebrochenen Schwiegereltern zurück und verließ Salem's Lot. Er wurde einige Jahre später weiter im Westen, in Colorado, gesehen, wo er seinen Lebensunterhalt als Jäger bestritt."
Er schüttelte sich, als ihm ein Schauer das Rückgrat hinauf kroch. "Das ist gruselig, Dean, als hättest du eine Zeitreise gemacht!"
Sein Bruder war noch immer fassungs- und sprachlos. Blairs Ahnin und sein Klon waren vor über 400 Jahren ein Paar gewesen, hatten zusammen ein Kind gehabt. Und was war Rubys Rolle in dieser Geschichte? Vielleicht war sie drauf aus, ihnen zu helfen, weil sie ihr Gewissen entdeckt und etwas an Blairs Familie gut machen wollte? Oder die Ähnlichkeit hatte einen Nerv bei ihr getroffen und sie zu diesem Dämonen-untypischen Verhalten veranlasst?
Er zuckte die Schultern, sein breites Grinsen erreichte nicht die Augen. "Hätte nicht gedacht, dass die Schlampe so einen guten Geschmack hat."
Für Blair war das zweite Bild eine Offenbarung und es fiel ihr wie Schuppen von den Augen. Jener Abend vor ein paar Wochen, der Disput zwischen Ruby und Dean, der Blick der blonden Dämonin – und der Blick von Rubinia auf dem Scan des alten vergilbten Bildes aus der Zeit der Hexenverbrennungen – sie waren gleich! Sie hatte Joe zugrunde gerichtet, indem sie dafür sorgte, dass seine Frau gehängt wurde – aus besessener Liebe. Und sie fühlte heute für sein Ebenbild das Gleiche! Das war es gewesen, was sie bei diesem Treffen so gereizt hatte an Ruby, dieser Blick war ihr unbewusst aufgefallen und hatte ihre total überzogene Abwehr ausgelöst.
Blair sah Dean an, dass er von diesem Umstand keine Ahnung hatte, desgleichen Sam. Vielleicht war es besser, dass diese Beiden in Bezug auf Gefühle ein wenig kurzsichtig waren.
Sie war nicht sicher, dass Joseph Abbott tatsächlich ein Vorfahr von Dean war. Es war durchaus möglich, aber es konnte ebenso gut eine Laune der Natur sein. Aber wenn es so war, hatte sie damit eine gute Erklärung für Deans Hass auf Hexen im Allgemeinen und auf Ruby im Besonderen.
"Kinder, jetzt wisst ihr, was damals wirklich geschehen ist. Ich wusste bereits, dass unsere Blair Anne wie aus dem Gesicht geschnitten ist, nach einem kleinen Porträt in unserer alten Familienbibel." Melissa stand, schwer auf ihren Stock gestützt, neben ihrer Enkelin in der Tür und sah auf die kleine Gruppe junger Leute, die dort versuchten, Licht in die Vergangenheit zu bringen. Sie seufzte erschöpft. Es war bereits fast zwei Uhr morgens und ihre Knochen vermeldeten Schlafbedarf, aber sie ging zu ihnen und legte Dean die zerbrechliche, blau geäderte Hand auf den Arm.
"Mein Junge", ihre Stimme war voller Wärme, " da hast du deine Antwort auf die Frage, die du mir heute Nachmittag gestellt hast." Sie ging nicht ins Detail, weil sie wusste, dass ihm schon die Frage früher am Tag peinlich gewesen war und er möglicherweise weder mit seinem Bruder noch mit Blair darüber sprechen wollte.
Er ignorierte Blairs fragenden Blick und lächelte kaum merklich. Seelenverwandtschaft – er konnte es noch nicht so recht glauben, aber alles sprach dafür.
Sam ging nicht weiter auf die kurze Kommunikation zwischen Melissa und Dean ein. "Ich werde morgen… ach nein, nachher", unterbrach er sich nach einem Blick auf die Uhr. "… ich werde genauer nachforschen, ob Joseph Abbott im Stammbaum der Familie Winchester auftaucht."
"Und was soll das bringen? Hilft uns das irgendwie gegen Abalam?" zweifelte sein älterer Bruder mit kritisch hochgezogenen Brauen.
"Vielleicht nicht, Winchester, aber es kann nicht schaden, die Vergangenheit genau unter die Lupe zu nehmen, nicht, dass die Winchesters Leichen im Keller haben, von denen wir nichts wissen und die als Waffen von den Dämonen benutzt werden können", unterstützte Blair Sams Vorhaben.
"Kinder, wollen wir morgen genauer besprechen, wie wir weiter vorgehen wollen? Wir müssen nach Möglichkeiten suchen, Abalam auszutricksen und überlegen, ob wir Ruby und ihrem Plan trauen können. Aber ich bin müde", die Stimme der alten Lady klang brüchig vor Erschöpfung und ihr Körper hatte kaum noch Spannung.
Cass' Gesicht nahm einen besorgten Ausdruck an, als ihre Großmutter schwankte, aber Dean war bereits an deren Seite und nach einem bestätigenden Blick von Cass lud er sich die alte Dame vorsichtig auf die Arme und trug sie die steile Treppe hinauf. Blairs Mutter dirigierte ihn mit seiner leichten Last in eines der Zimmer, die sonst von den werdenden Mütter genutzt wurden und als er Melissa dort auf dem hübschen Plaid absetzte, strich sie ihm dankbar über die stoppelige Wange. Er wusste vor Verlegenheit kaum wohin. Das war Familie, fremd für ihn und ungewohnt, und er verdrückte sich zügig wieder nach unten und überließ Melissa der Fürsorge ihrer Enkelin.
* * *