AW: Die Gilde der Magier
Lyra
Lyra atmete innerlich auf, als die Hohe Lady meinte, sie müsse wieder aufbrechen, um den König zu besuchen. Und die Worte, welche Vinara zuletzt an sie richtete, brachten sie dazu, ihre Haltung, gegenüber der Hohen Lady noch einmal zu überdenken. Vielleicht hatte Lady Issle ja Recht gehabt, und Vinara hatte am Vorabend wirklich einen schlechten Tag gehabt. Denn jetzt schien sie zwar immer noch sehr unnahbar, doch wenigstens war sie nicht mehr so kalt und abweisend.
Und so nickte Lyra leicht, lächelte der Hohen Lady kurz zu, und erhob sich ebenfalls, als Vinara aufstand, um sich vor ihr zur Verabschiedung zu verneigen. Als die Hohe Lady den Raum dann verlassen hatte, setzte sich Lyra wieder hin, nahm ihr Glas zur Hand und trank einen grossen Schluck, um ihre trockene Kehle wieder zu befeuchten.
Erst dann blickte sie wieder zu Lord Lorlen, welcher sich ebenfalls wieder gesetzt hatte und lächelte ihm kurz zu. „Müsst ihr wirklich warten, bis Lord Rothen hier ist, um mir zu sagen, warum ich hier bin?“, erkundigte sie sich dann mit leiser Stimme und senkte den Blick wieder leicht. „Weshalb habt ihr mich hierher gebracht?“, stellte sie gleich noch die zweite Frage und musterte daraufhin Lord Lorlen, dessen Blick noch immer an der Türe zu haften schien, durch welche Lady Vinara gerade verschwunden war.
Lord Lorlen
Die Antworten des Mädchens gefielen Lorlen ziemlich gut. Sie verstand es, genau die richtigen Worte für Vinara zu finden, damit sie diese nicht verärgerte. Sie war zwar die ganze Zeit sehr zurückhaltend, doch sie liess sich nichts davon anmerken, dass die Hohe Lady sie einschüchterte. Was ihn allerdings verwirrte, war das Verhalten der Hohen Lady. Diese wich seinen Blicken aus und behandelte ihn herablassend kühl. Er verstand diese Frau einfach nicht…
Als die Hohe Lady schliesslich aufstand und auch er sich erhob, war für einen kurzen Augenblick wieder alles genau so wie am Vortag. Ihr Blick schien sich in seinen Augen zu verlieren und es schien ihr schwer zu fallen, ihn von ihm weg zu reissen. Doch vermutlich bildete er sich auch das nur ein. Ihr ganzes Verhalten deutete nämlich viel eher auf das Gegenteil hin. „Hohe Lady, selbstverständlich werde ich euch heute Abend Bericht erstatten. Und auch ich, wünsche Euch noch einen schönen Nachmittag“, meinte er leise zu der jungen Frau und neigte leicht sein Haupt.
Als sie schliesslich weg war, setzte er sich gemeinsam mit Lyra wieder hin. Sein Blick blieb jedoch noch einen Moment auf die Tür gerichtet und wirkte etwas abwesend. Doch dies lag nicht daran, dass er über die Hohe Lady nachdachte, wie Lyra wohl vermutete, sondern daran, dass er per Gedankenrede Kontakt mit Lord Rothen aufnahm. Rothen? Bist du noch am Unterrichten? Lyra ist gerade bei mir und ich möchte, dass wir ihr mitteilen, dass du ihr Mentor wirst. Aber vorher, wäre es nicht schlecht, wenn sie dich etwas besser kennen lernen würde. Also… Es wäre gut, wenn du so bald als möglich kommen könntest, schickte er Lord Rothen die Nachricht und wandte seinen Blick dann wieder Lyra zu. Er lächelte ihr zu und musste dann schmunzeln. Sie kam wirklich ziemlich schnell auf den Punkt zu sprechen, welchen sie interessierte.
„Weshalb du gerade hier in diesem Büro bist, wirst du erfahren, sobald Lord Rothen hier ist, Lyra. Doch ich kann dir sagen, weshalb du hier in der Gilde bist“, sagte er zu ihr mit einem sanften Lächeln und machte dann eine kurze Pause. „Lyra, Magie ist nicht nur eine Gabe. Sie kann auch ein Fluch sein. Deine Magie ist sehr stark. Sie hat sich sogar gezeigt, noch bevor irgendein Magier sie „erweckt“ hat. Die Gilde kann nicht zulassen, dass jemand mit so viel Potenzial, einfach nicht beachtet wird. Wir mussten dich aufsuchen. Und dann hatten wir zwei Möglichkeiten. Entweder, wir geben dir die Chance, dein magisches Potenzial für die Gilde zu nutzen, oder wir blockieren deine Fähigkeiten. Etwas, das nur mit deiner Zustimmung oder mit der Anwendung von Gewalt möglich gewesen wäre… Und so haben wir uns entschieden, dich zu uns zu holen“, erklärte er ihr.
Als er daraufhin ihren fragenden Blick sah, wusste er genau, welche Frage ihr auf der Zunge lag. „Du möchtest wissen, weshalb wir deine Fähigkeiten hätten unterbinden müssen? Lyra, Magie kann gefährlich sein. Wenn man sie nicht kontrollieren kann, wenn sie erst einmal erwacht ist, dann wird sie wachsen und dich irgendwann einfach verschlingen. Sie hätte dich getötet, Lyra“, erklärte er ihr schliesslich noch leise.